Ich hatte gestern die Verwendung des „Verrats“-Begriffs durch die Liga für die 5. Internationale (L5I – in Deutschland: Gruppe Arbeitermacht [GAM]) in Bezug auf die aktuelle Politik der griechischen Regierungspartei SYRIZA kritisiert. Heute wirft sich nun das Lower Class Magazine (LCM) – in Kritik an Positionen aus dem IL/-Blockupy-Spektrum – für den Verrats-Begriff in die Bresche:
In Griechenland wie im Rest der EU nennen viele Linke das Vorgehen von Syriza ‚Verrat‘. Anders sieht das der ‚Aktivist und Philosoph‘ Thomas Seibert in einer gestern erschienenen Verteidigungsschrift für Tsipras im Neuen Deutschland. Er meint: ‚Das Verrats-Krakeele ist vor diesem Hintergrund eine ungeheuerliche Anmaßung, ebenso lächerlich wie widerwärtig.‘ Konrad Duden könnte ihn eines besseren Belehren. Verrat bedeutet im Deutschen ‚Bruch eines Vertrauensverhältnisses, Zerstörung des Vertrauens durch eine Handlungsweise, mit der jemand hintergangen, getäuscht, betrogen o. Ä. wird, durch Preisgabe einer Person oder Sache.‘ Die Sache, die preisgegeben wurde, ist das Programm der Partei Syriza, um das herum sich die AktivistInnen dieser Partei organisierten, und wegen dessen dieser Partei im parlamentarischen Wahlspektakel Menschen ihre Stimme gaben.
Dass Syriza ihr Programm und ihre Versprechen preisgegeben hat, daran kann keine halbwegs nüchterne Beobachterin zweifeln. Wofür Seibert argumentiert, ohne es zu wissen, ist nicht, dass es sich nicht um Verrat – oder nennen wir es neutraler: die völlige Preisgabe der eigenen Programmatik und Wahlversprechen – handelt. Er argumentiert, ähnlich wie ein zum gleichen Zeitpunkt erschienenes Papier einer Blockupy-Delegation vielmehr, dass dieser Verrat das ‚kleinere Übel‘ zum Abbruch der Verhandlungen und zum Austritt aus EU und Euro-Zone wäre und es für die griechische Linkspartei keine Alternative zum Verrat gab.
Ohne meinerseits die beiden vom LCM kritisierten Texte vollständig richtig zu finden (den Seibert-Text habe ich bisher nicht einmal gelesen) – und zumal ohne die grundsätzliche Blockupy/IL-Linie richtig zu finden (s. z.B. 1 und 2) –, möchte ich doch folgende Anti-Kritik gegen die LCM-Argumentation vorbringen:
1. Sprachlich, da auch das Magazin der niederen Klassen den Duden liest:
Der Duden schreibt zutreffenderweise nicht, daß „Verrat“ „Preisgabe einer Person oder Sache“ bedeute – wie aber das LCM suggeriert -. Vielmehr schreibt der Duden, daß „Verrat“ folgendes bedeuten kann: „Zerstörung des Vertrauens durch eine Handlungsweise, mit der jemand hintergangen, getäuscht, betrogen o. Ä. wird, durch Preisgabe einer Person oder Sache“.
Die Preisgabe ist also nicht der Verrat selbst, sondern nur der Modus (die Art und Weise), in dem der Verrat erfolgt. Das Wichtige (das Definitionsmerkmal) ist das Hintergehen von Vertrauen, ein Betrügen bzw. Täuschen. Oder anders gesagt: Ein Preisgeben aus Schwäche oder Mangel an Analyse/Einsicht ist kein Verrat.
Nun gibt SYRIZA zwar in der Tat gerade einen erheblichen Teil (nämlich den keynesianischen) ihrer Programmatik auf. – Allerdings war von Anfang bekannt, daß die SYRIZA-Programmatik auch noch einen anderen Teil hat – nämlich unbedingt zur landläufig (und häufig auch von SYRIZA-PolitikerInnen) „Europa“ genannten neoliberalen EU und Eurozone gehören zu wollen. Und von einem Großteil ihrer WählerInnen ist SYRIZA gerade deshalb gewählt worden.
Hier wurde also niemand getäuscht, sondern der Widerspruch lag offen auf dem Tisch. Und wer den Widerspruch nicht gesehen hatte, wurde nicht betrogen, sondern war ignorant oder hatte Illusionen.
2. Dialektisch-materialistisch, da ein kleiner Teil der niederen Klassen nicht nur den Duden, sondern auch Karl Marx und ein noch kleinerer Teil sogar Lenin liest:
Karl Marx schrieb in seiner – Das Elend der Philosophie (gemeint war die Philosophie des Anarchisten Proudhon) betitelten – Schrift:
„Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan. [….]. Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen.“ (MEW 4, 125; vgl. auch LW 20, 19; 39, 96)
‚Das Gute‘ an SYRIZA war also ihr Keynesianismus und ‚das Schlechte‘ an SYRIZA ist also ihr Festhalten an der neoliberalen EU/Eurozone. Das LCM meint, beide Seiten des gleichen Phänomens SYRIZA auseinanderreißen zu können – und deshalb vom „Verrat“ durch SYRIZA sprechen zu können, wohl sie doch gerade standhaft an ihrer Präferenz für die (de facto neoliberale) EU/Eurozone festhält.
Was wir gerade erleben, ist kein Verrat von SYRIZA an ihrer Programmatik und ihren WählerInnen, sondern die Entwicklung eines inneren Widerspruchs (in diesem Fall des inneren Widerspruchs von SYRIZA und ihrer AnhängerInnen); das, was Lenin die „Quelle“, die „treibende Kraft“ der geschichtlichen „Bewegung“ nannte:
„Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst“
„Die beiden grundlegenden […] Konzeptionen der Entwicklung […] sind: Entwicklung als Abnahme und Zunahme, als Wiederholung, und Entwicklung als Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einanderausschließende Gegensätze und das Wechselverhältnis zwischen ihnen). Bei der ersten Konzeption der Bewegung bleibt die Selbstbewegung, ihre treibende Kraft, ihre Quelle, ihr Motiv im Dunkel (oder diese Quelle wird nach außen verlegt – Gott, Subjekt etc.). Bei der zweiten Konzeption richtet sich die Hauptaufmerksamkeit gerade auf die Erkenntnis der Quelle der ‚Selbst‘bewegung.“
(LW 38, 240, 239)
Das LCM, die GAM und alle anderen, die SYRIZA gerade „Verrat“ vorwerfen, verlegen die Quelle der geschichtlichen Entwicklung in ein quasi-göttliches Subjekt Tsipras statt die inneren Widersprüche von SYRIZA zu untersuchen. – Den „niederen Klassen“ ist damit nichts Gutes getan.
PS.:
1. Das Vorstehende heißt nicht, daß ich richtig finden würde, zu dem heute morgen in Brüssel Vereinbarten „Ja“ zu sagen. Es heißt vielmehr, daß ich es für notwendig halte, es anders als mit einer Verrats-Hypothese zu erklären, warum viele (vermutlich: die allermeisten) in SYRIZA für notwendig (genauer: unvermeidlich!) halten, dem heute morgen Vereinbarten zuzustimmen.
2. Ich sage aber auch nicht, daß es sinnvoll wäre, wenn SYRIZA hier und heute als Regierungspartei die Vereinbarung von heute morgen ablehnen und ein Ausscheiden aus der Eurozone betreiben/hinnehmen würde. – Egal, ob innerhalb oder außerhalb der Eurozone – solange sich das globale Kräfteverhältnis nicht ändert (nicht ändern läßt [!], weil ‚wir‘ – wer dieses ‚wir‘ auch immer genau sein mag – zu schwach sind), gibt es für die Massen in Griechenland weder mit dem einen noch mit dem anderen Weg rosige Aussichten.
3. Wenn Geschichte nach dem Prinzip ‚Wünsch Dir was…‘ laufen würde, würde ich mir wünschen, daß SYRIZA die griechische Regierung verläßt (in die sie m.E. auch aus ihrem eigenen Interesse als linkssozialdemokratisch-keynesianistischer 35 %-Partei unter den Bedingungen der massiven globalen neoliberalen Hegemonie niemals hätte eintreten sollen) und als Oppositionspartei die heute morgen getroffene Vereinbarung bekämpft. – Nur wird das nicht stattfinden, weil die Geschichte eben nicht nach dem Prinzip ‚TaP wünscht sich was…‘ läuft.