1. Eine Krise für die ArbeiterInnenklasse oder für das Kapital?
„[…] erlaubt, die Frage des Übergangs zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und des Bruchs mit dem Kapitalismus endlich von der Frage der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise zu trennen. Sollten derartige ‚Grenzen’ existieren – was zweifelhaft ist, da es, wie man gesehen hat, eine unaufhörliche Dialektik zwischen den Formen der sozialen Integration der Arbeit und ihrer Proletarisierung, den technologischen Innovationen und der Intensivierung der Mehrarbeit gibt –, so haben sie nicht direkt etwas mit dem revolutionären Bruch zu tun, der nur dann eintreten kann, wenn die Destabilisierung des Klassenverhältnisses selbst, d.h. des ökonomisch-staatlichen Komplexes, eine günstige politische Gelegenheit für Veränderungen bietet. Wieder muß also die Frage gestellt werden, für wen es eine ‚Krise’ gibt und was in der ‚Krise’ ist.“
(Etienne Balibar, Vom Klassenkampf zum Kampf ohne Klassen?, in: ders. / Immanuel Wallerstein, Rasse. Klasse. Nation. Amivalente Identitäten, Argument: [West]berlin, 1990, 190 – 224 [220 f.]).
2. Wachstums- oder Zusammenbruchskrise?
a) „Morphologie des entwickelten Kapitalismus“ = „ein bestimmtes Anpassungsvermögen, welches der Entwicklung der Produktivkräfte eigen ist, eine bestimmte Plastizität, die es ihnen in Krisenzeiten ermöglicht, ihre eigene Neustrukturierung zu leisten“
(Christine Buci-Glucksmann, Über die politischen Probleme des Übergangs: Arbeiterklasse, Staat und passive Revolution, in: SOPO. Sozialistische Politik [das europäische buch: Westberlin], Vol. 41, Sept. 1977, 13 – 35 [15, anknüpfend an Gramscis Begriff der „passiven Revolution“]).
b) „Das Wort ‚Krise’, ein medizinischer Ausdruck, der die akute Phase eines Krankheitsverlaufs bezeichnet, wo über Heilung, Tod oder Aufschub entschieden wird, wurde nicht erst von Marxisten auf Politik und Ökonomie angewendet. Der marxistische Beitrag dazu ist eine materialistische und dialektische Konzeption der Geschichte, die es ermöglicht, sie als einen Prozeß zu denken, wo Phasen struktureller Stabilität (in denen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse mit nur quantitativen Veränderungen reproduzieren) und durch Krisen eingeleitete Phasen qualitativer Veränderung einander ablösen. […]. Man kann ‚nicht mehr in der alten Weise weitermachen’. Es eröffnen sich dann verschiedene mögliche Auswege: Wiederherstellung der Verhältnisse in mehr oder weniger modifizierter Form, und sei es durch Konterrevolution und Krieg, oder revolutionäre Einrichtung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse.“
(Alain Lipietz, Stichwort „Krise“, in: Georges Labica / Gérard Bensussan (Hg.), Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Dt. Fassung hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd. 8, Argument, [West]berlin, 1986 [frz. Originalausgabe: 1982: 1. Auflage, 1984/85: 2. Auflage], 712 – 719 [712 f.]).
Anmerkung:
Diese begrifflichen Differenzierungen haben zwar den Vorteil, daß sie Krise und Zusammenbruch des Kapitalismus nicht gleichsetzen. Gleichzeitig löschen sie aber damit aber unter den Oberbegriffen „Krise“ und „qualitative Veränderung“ (statt „Stabilität“ und „quantitative[r] Veränderung“) tendenziell den Unterschied zwischen einer modifizierten „Wiederherstellung“ (Erneuerung, Modernisierung) der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und deren revolutionären Umsturz – zwischen ‚passiver’ und ‚aktiver’ Revolution – aus. Welchen analytischen Wert hat dann der Begriff „Krise“ noch? Ist der Kapitalismus dann nicht immer in der ‚Krise’? Modifiziert er sich nicht ständig „mehr oder weniger“?
3. Krise – immer nur Krise? – eine Analogie (zwischen moral economy und Kapitalismus)
„Auch der Begriff ‚moral economy’ scheint mir gefährlich, weil er dazu führen kann, einen unveränderlichen Traditionalismus zu unterstellen; in Wirklichkeit handelt es sich um eine Art bauchrednerische Kategorie, die sich nie genau festmachen läßt und sofort verschwindet, wenn man ihr näher tritt: Die ‚moral economy‘ hat sozusagen immer 20 Jahre oder 50 Jahre Vorsprung, und ist immer gerade ‚am Zusammenbrechen’.“
(Gareth Stedman Jones, in: Peter Schöttler, Interview mit Gareth Stedman Jones, in: G. St.J., Klasse, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, Westfälisches Dampfboot: Münster, 1988, 277 – 317 [299]).