Als Nachtrag zu meinem gestrigen Text „Noch einmal: Unrechtsstaat DDR? Rechtsstaat DDR! Leider.“ folgen hier noch zwei Begriffserläuterungen. Es handelt sich um Auszüge aus einem Vortrag, den ich am 15.12.2008 am Internationalen Forschungsinstitut für Kulturwissenschaften in Wien gehalten hatte Zu dem am Ende angesprochenen Unterschied, ob das Volk oder die Staatsapparate die Gesetze brechen s. ergänzend auch noch meinen Text „Antifranquismus mittels Recht? – Die neuste publicity für Richter Garzón„.
Es war Hans Kelsen, der 1925 in seiner Allgemeinen Staatslehre (S. 91), eine Unterscheidung zwischen einem formalen und einem materiellen Rechtsstaatsverständnis traf:
► Rechtsstaat im formalen Sinne sei jeder Staat, dessen sämtliche Handlungen aufgrund einer Rechtsordnung erfolgen – unabhängig davon, welchen Inhalt diese Rechtsordnung hat.
► Rechtsstaat im materiellen Sinne sei jeder Staat, dessen Rechtsordnung bestimmte Rechtsinstitutionen, wie demokratische Gesetzgebung, Bindung der exekutiven Akte des Staatsoberhauptes an Gegenzeichnung parlamentarisch verantwortlicher Minister, Freiheitsrechte der Untertanen und Unabhängigkeit der Gerichte, enthält.
Es blieb der deutschen Staatsrechtslehre und -praxis vorbehalten, darüber hinaus noch einen super-materiellen, ins Unermeßliche gesteigerten Rechtsstaats-Begriff zu kreieren.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht postulierte 1953 in einer seiner frühen Entscheidungen, die stilbildend für seine (allein soweit veröffentlicht, mittlerweile auf über 100 Bände angewachsene) Rechtsprechung geworden ist:
„auch der Gesetzgeber [kann] Unrecht setzen, [so]daß also […] die Möglichkeit gegeben sein muß, den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes […] zum Ausdruck kommt.“
Dem wäre zuzustimmen – ja, es wäre eine Banalität –, wenn damit nur gemeint wäre, daß es verfassungswidrige Gesetze gegeben kann; wenn „Unrecht“ also ein Synonym für „verfassungswidrig“ wäre, und wenn mit dem „positiven Gesetz“ nur die einfachen Gesetze gemeint wären, aber nicht die Verfassung, nicht die Verfassungsgesetze, wie ich hier in Österreich – anders als in Deutschland – sagen kann, ohne zu irritieren.
Das Wort „Verfassungsgesetze“ hat in Deutschland und sicherlich auch bei österreichischen SchmittianerInnen (sofern es solche denn gibt) einen abwertenden Klang, seit Carl Schmitt die bloßen „Verfassungsgesetze“, also die positive Verfassung, einer eigentlichen Verfassung, einer überpositiven Verfassung entgegensetzte und erstere – die geschriebene Verfassung – der letzteren – der eigentlichen, der höheren Verfassung – unterordnete.
An dieser Stelle ist vielleicht noch eine zweite Begriffsklärung einzuschieben: […]. Die „positiven Gesetze“ sind nicht die – politisch oder moralisch – guten Gesetze, sondern es sind schlicht die gegebenen Gesetze (unabhängig davon, ob sie ‚gut’ oder ‚schlecht’ sind, was immer eine politische Streitfrage sein wird).
Für den Rechtspositivismus, oder präziser gesagt: für den Gesetzespositivismus, wie ihn Hans Kelsen verteidigt hat – und wie ich ihn heute Abend verteidigen will – sind die gegebenen Gesetze in etwa das, was für andere positivistische WissenschaftlerInnen, insb. NaturwissenschaftlerInnen, die gegebenen Tatsachen sind. Oder noch einmal präsiziert: Auch Gesetze sind Tatsachen (wenn auch eine besondere Form von Tatsachen; diskursive Tatsachen, Tatsachen, die auf Papier verkörpert sind); also: Gesetze sind Tatsachen, das heißt: Objekte, die es zu erkennen gilt (vgl. den Abschnitt „Das juristische Sein, die Rechtslage, als Erkenntnisobjekt“ meines Textes „Recht, Gesetz und Revolution“).
An dieser – wenn wir so wollen ‚positivistischen’ (für mich ist das kein Schimpfwort) – Grundhaltung ist m.E. festzuhalten, auch wenn wir
► die positivistischen Illusionen hinsichtlich der Einfachheit des Erkennens der Tatsachen,
► den Glauben, die Tatsachen oder den Glauben, der Inhalt der Gesetze sei evident,
► den Glauben, sie könnten durch bloßes Hinsehen erkannt werden,
längst hinter uns gelassen haben.
Trotz dieser Desillusionierung ist jene positivistische – wir können auch sagen (im philosophischen Sinne) materialistische – Grundhaltung der beste, wenn auch niemals sichere Schutz dagegen, Hinsehen und Denken durch Phantasieren zu ersetzen. Schutz dagegen, Hinsehen und Denken durch Phantasieren zu ersetzen.
Aber kommen wir zurück zu dem angeführten Zitat des deutschen Verfassungsgerichtes. Daß das Gericht nicht nur die Banalität meint, daß es verfassungswidrige Gesetze geben kann, zeigt sich daran, daß es den moralisch aufgeladenen Begriff des „Unrecht[s]“ verwendet, und daran, daß es „den Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit höher […] werte[t] als den der Rechtssicherheit“. Denn, wenn es nur darum ginge, daß es verfassungswidrige Gesetze geben kann, dann gäbe es kein Problem mit der Rechtssicherheit, dann müßte sie nicht gegenüber der „materiellen Gerechtigkeit“ abgewertet werden, dann würde es schlicht um die Sicherheit, daß die geltende Verfassung auch tatsächlich gilt, gehen. Dann müßte die Rechtssicherheit nicht abgewertet, sondern verteidigt werden.
Aber das Bundesverfassungsgericht geht noch weiter, es wertet nicht nur die von ihm definierte (welche Definition sollte es sonst sein?! – wenn es nicht die der positiven Verfassung ist) / also noch mal:
das Bundesverfassungsgericht wertet nicht nur die von ihm definierte „materielle Gerechtigkeit“ höher als die einfachen Gesetze, sondern es sagt in derselben Entscheidung auch noch ganz offen, daß es im Zweifelfall bereit ist, seine Vorstellung von „materielle[r] Gerechtigkeit“ über die positive Verfassung, über die Verfassungsgesetze zu stellen:
„Auch ein ursprünglicher Verfassungsgeber“, so das Bundesverfassungsgericht, „ist der Gefahr, jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, nicht denknotwendig entrückt.“
Materielle Rechtsstaatlichkeit im deutschen Sinne bedeutet daher, „materielle Gerechtigkeit“ nicht nur über die einfachen Gesetze, sondern auch über die Verfassung zu stellen. Materielle Rechtsstaatlichkeit im deutschen Sinne bedeutet, daß – im Konfliktfalle – nicht der demokratische Gesetzgeber oder der demokratische Verfassungsgeber definiert, was eine „gerechte“ Lösung ist, sondern das Bundesverfassungsgericht definiert es. Das Bundesverfassungsgericht, das nur sehr mittelbar demokratisch legitimiert ist und für das das passive Wahlrecht auf einen begrenzten Personenkreis beschränkt ist.
Wenn wir jetzt noch einmal den deutschen materiellen Rechtsstaats-Begriff mit Kelsens Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Rechtsstaat vergleichen, dann erscheint selbst Kelsens materieller Rechtsstaats-Begriff gewissermaßen als ‚formal’, jedenfalls als positivistisch:
Die Rechtsordnung eines materiellen Rechtsstaates im Sinne von Kelsen schreibt vor, daß die Gesetzgebung auf demokratische Weise erfolgt, dies setzt voraus, daß politische Freiheitsrechte bestehen: ohne Gewissensfreiheit keine Meinungsäußerungsfreiheit, und ohne Meinungsäußerungsfreiheit, ohne die Möglichkeit, die Meinungsäußerungsfreiheit auch kollektiv bei Demonstrationen auszuüben, keine demokratische Gesetzgebung.
Außerdem gibt es noch eine institutionelle Stütze: die unabhängigen Gerichte, die – wie die klassische Formel lautet – ‚ohne Ansehen der Person’, auch ohne Ansehen der ‚Staatsperson’, ohne Berücksichtigung der – je aktuellen – Staatsräson darauf achten sollen, daß die Gesetze, die vorab (vor ihrer Anwendung) unter diesen demokratischen Formen und Verfahren beschlossen wurden, auch tatsächlich zur Anwendung kommen.
Kelsen äußerte sich an der genannten Stelle zwar nicht zu der Frage, welche Freiheitsrechte existieren müssen und wie sie genau definiert sein müssen, damit wir von einem materiellen Rechtsstaat sprechen können. Aber für Kelsen ist klar:
► Solange eine Rechtsordnung sich nicht selbst als Rechtsstaat definiert, d.h.: solange das Wort „Rechtsstaat“ kein Begriff der Gesetzes- und Verfassungssprache ist, sondern ausschließlich ein Begriff der Lehre und der Politik, stellt sich für die Gerichte nicht die Frage, den Begriff „Rechtsstaat“ auszulegen und Gesetze als ‚materiell rechtsstaatswidrig’ zu verwerfen.
► Gesetze, die unter Beachtung der in einer Rechtsordnung festgeschriebenen Verfahren (und ggf. Freiheitsrechte) zustande kommen, sind Recht.
► Und wenn keine oder zuwenig Freiheitsrechte existieren, dann mögen Politik, Moral und staatstheoretische Systematisierung einem Staat die Klassifizierung „materieller Rechtsstaat“ absprechen, und es mag rechtfertigen, daß sich das Volk diese Freiheitsrechte revolutionär erobert; eine Rechtfertigung dafür, daß staatliche Gerichte die Rechtsordnung zersetzen und ihre eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der positiven Gesetze und der positiven Verfassung setzen, liegt darin nicht. (Das Kelsen-Buch, aus dem ich zitiert habe, ist wohlgemerkt eine Allgemeine Staatslehre, keine konkrete Rechtslehre; der dort entwickelte materielle Rechtsstaats-Begriff ist keine Anleitung für die Rechtssprechung.)
► Und ein viertes ist für Kelsen klar: Die Zerstörung des formellen Rechtsstaats, der Rechtssicherheit, kann niemals ein Mittel sein, um den materiellen herzustellen. Der formale Begriff des Rechtsstaats ist, wie Kelsen (1925, 91) ausdrücklich sagt, der gegenüber dem materiellen Rechtsstaats-Begriff „primäre“. Wo kein formeller Rechtsstaat existiert, existiert auch kein materieller.
Ganz anders im Falle des deutschen materiellen Rechtsstaats-Begriffs: Die Rechtssicherheit wird zur Disposition gestellt; Gerechtigkeitsvorstellungen werden vom Bundesverfassungsgericht (und auch den anderen Gerichten) unmittelbar angerufen. Die in der Verfassung positivierten Freiheitsrechte mögen einen Anhaltspunkt dafür bieten, was eine gerechte Rechtsordnung ist, aber, so das Bundesverfassungsgericht bereits in einer noch früheren Entscheidung: „Das Verfassungsrecht besteht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus gewissen […] Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber […] nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.“ (BVerfGE 2, 380-406 [381]). Und rund 20 Jahre später sagt dasselbe Gericht: Es sei Aufgabe der Justiz, „Wertvorstellungen, die […] in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen“.
Wie gesagt: Das sind keine einzelnen Ausrutscher oder Übertreibungen, sondern prägt das Methoden- und Selbstverständnis der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtssprechung grundsätzlich.
Es gibt also mindestens drei Rechtsstaats-Begriffe:
► einen formellen, der keinerlei Anforderungen an den Inhalt der Rechtsordnung richtet, den BürgerInnen aber immerhin Rechtssicherheit garantiert;
► einen materiell-positivistischen Rechtsstaats-Begriff im Sinne von Hans Kelsen, der bestimmte (letztlich politische) Vorstellungen, was eine ‚gute’ Verfassung ist, beinhaltet, aber keine Ermächtigung an die Gerichte bedeutet, ihre jeweiligen Vorstellungen von ‚gut’ an die Stelle der tatsächlichen Rechtsordnung zu setzen;
► und schließlich einen super-materiellen, antipositivistischen, deutschen Rechtsstaats-Begriff, der genau diese Ermächtigung mitumfaßt; der erlaubt „materielle Gerechtigkeit“ höher zu werten als Rechtssicherheit, wobei „materielle Gerechtigkeit“ eine Leerformel ist, die mit den je aktuell hegemonialen moralischen bzw. politischen Werten gefüllt werden kann.
Nachbemerkung:
(Fast) alles weitere zum Thema „Rechtsstaat“ findet sich dort:
Schulze/Berghahn/Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne (StaR « P. Neue Analyen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Bd. 2), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 952 Seiten.
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