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Didier Chevolet, Pascale Vandegeerde, Bertrand Sassoye & Pierre Carette
Gefangenenkollektiv der Kämpfenden Kommunistischen Zellen
Eine nicht zu rechtfertigende Erklärung
(Zum Brief der RAF vom 10. April 1992)
Im Frühling dieses Jahres hat die Rote Armee Fraktion ein wichtiges politisches Dokument veröffentlicht. In diesem Text stellt die revolutionäre deutsche Organisation verschiedene Gedanken dar, welche die internationale Situation und die soziale, militante und politische Lage in ihrem Land betreffen (mit besonderem Augenmerk auf die Frage der inhaftierten Genossinnen und Genossen); sie zieht eine Art Bilanz ihrer Aktivität und schließt mit der Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzugeben.
In einer bestimmten Art und Weise hat uns dieser Schritt nicht überrascht. Seit langer Zeit verstehen wir nicht mehr, aus welchen historischen, politischen und strategischen Analysen die RAF ihre kämpfende Vitalität schöpfen konnte. Aber das heißt, daß uns dieser Schluß besonders verabscheuungswürdig erscheint: Er drückt nicht die Eröffnung einer kritischen und selbstkritischen Überlegung aus, die auf eine theoretisch-politische Richtigstellung zugunsten der revolutionären Sache bedacht ist, wohl aber das liquidatorische Resultat des Prozesses von Abweichung und politischer Degradierung, den die RAF während der zwanzig Jahre ihrer Existenz erfahren hat.
Wir wissen, daß viele Militante der sogenannten „antiimperialistischen“ Bewegung in Deutschland es für extrem unangebracht halten, von aufeinanderfolgenden Etappen in der Geschichte der RAF zu sprechen. Trotzdem, wenn man sich auf den Diskurs und die Praxis der Organisation seit Anfang der 70er Jahre bezieht, ist unbestreitbar, daß die RAF von 1972, 77 oder 82 drei verschiedene, sehr unterschiedliche Gesichter zeigt.
Ursprünglich bezog sich die Organisation teilweise auf marxistische Prinzipien und auf die marxistische Analyse, bewies politische Kreativität und Initiative im revolutionären Kampf. 1977 befand sie sich auf dem Gipfel strategisch defensiver Optionen. 1982 bestätigte sie – durch den Text „guerilla, widerstand und antiimperialistische front“ – die komplette Preisgabe ihrer anfänglichen marxistischen Referenzen und ihr gänzliches Einschreiben in den Subjektivismus und den Militarismus. Während der folgenden zehn Jahre hat sich die RAF immer weiter in diese Sackgasse verrannt. Ausgehend von der sehr auffälligen Proklamation einer „westeuropäischen Guerillafront“ mit A.D. im Jahre 1985 und der nicht weniger medienwirksamen gemeinsamen Unterzeichnung einer Forderung mit den B.R./P.C.C. im Jahre 1988 bis hin zu einer großen Zahl bemerkenswerter Guerillaaktionen (ganz besonders die Exekution des Treuhand-Chefs, Rohwedder), konnte sich die deutsche Organisation, mit gutem Willen zwar, nur in verlorenen Illusionen erschöpfen. Heute scheint die RAF nicht mehr zu verstehen, gegen wen sie kämpft und weshalb. Dies ist auf Zeit unvermeidbar, wenn man den historischen Materialismus und den wissenschaftlichen Sozialismus, das Ziel der Klassenrevolution und der Diktatur des Proletariats aufgegeben hat.
Das von der RAF im April veröffentlichte Dokument und besonders seine Schlußfolgerung des „Abschieds von den Waffen“ haben unter der deutschen militanten Bewegung wichtige Erschütterungen provoziert; sie haben zahlreiche Diskussionen und Stellungnahmen bis auf internationaler Ebene hervorgerufen. So hatten wir die Gelegenheit, den sehr zutreffenden Beitrag des Zentralkomitees der P.C.E.(r.) mit dem Titel „Replantamiento estrategico o liquidacion?“ [in dieser Broschüre S. Anm. d. Hg.] {die korrekte Schreibweise wäre „Replanteamiento estratégico o liquidación?“ gewesen. TaP} zu lesen. Auch wir wollen zu diesem Thema beitragen, wenn wir auch die Verspätung bedauern. Wir denken, daß es um unsere Verantwortung und politische Solidarität gegenüber der gesamten revolutionären Bewegung geht.
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Bevor wir zum Inhalt des Dokuments der RAF kommen, möchten wir einige Worte zu diesem Brief selbst sagen. Seit vielen Jahren entwickelt sich in der revolutionären europäischen Bewegung eine kritische Debatte. Interessante Beiträge, besonders aus Spanien und Italien, sind im Umlauf, und von unserer Seite bemühen wir uns, an dem Austausch mit unseren bescheidenen Kapazitäten teilzunehmen. Ein großer Teil der Themen und Analysen dieser Debatte auf internationaler Ebene bezieht sich besonders auf die anti-marxistischen, subjektivistischen und militaristischen Positionen, welche in erster Linie die RAF seit Anfang der 80er Jahre vertritt. Nun hat aber, soviel wir wissen, die RAF es niemals für sinnvoll erachtet, diese politischen Kritiken zu beachten oder sich den Argumenten zu stellen, auf denen sie basieren. Und der Brief vom 10. April ignoriert diese noch immer in großartiger Weise.
Obwohl die RAF heute erklärt, daß ein Grund des Scheiterns ihrer Ideen in der Tatsache besteht, daß sie sich isoliert hat, weil sie keine wirkliche politisch-organische Beziehung mit denjenigen aufgebaut hat, die sich in die revolutionäre Perspektive einreihen. Sie ruft zu neuen Beziehungen, zu neuen gemeinsamen Diskussioen und Projekten etc. auf. Aber konkret fährt sie fort, die Debatte zu verhindern und die Fragen und Antworten so zu formulieren, wie sie alleine sie versteht. Zum Beweis die folgende merkwürdige Handlungsweise: Um bessere Bedingungen für eine Grundüberlegung – die sehr weit die militante Bewegung in Deutschland durchzieht – über den bewaffneten revolutionären Kampf zu schaffen, gibt die RAF diesen auf. Anders gesagt, um eine Reflexion über ein Thema zu begünstigen und dabei die Richtigkeit der Schlußfolgerungen zu garantieren, beginnt sie damit, das fragliche Thema eigenmächtig zu liquidieren. Unserer Meinung nach und in diesem besonderen Fall drückt eine solche Handlungsweise keine Suche nach revolutionärem Fortschritt aus, sondern zeigt einen Versuch, im Nachhinein eine Entscheidung zu rechtfertigen, die im Zusammenhang mit anderen, nicht zugegebenen Interessen getroffen wurde.
Ein anderer Aspekt des Dokuments der RAF verdient, hervorgehoben zu werden. Wir haben gehört, daß er sehr verschieden verstanden wurde: Einige sehen darin ein gerissenes taktisches Manöver, andere die Anerkennung der Unangemessenheit der revolutionären Gewalt, etc. Schließlich finden viele darin die Gelegenheit, sich von dem, worauf sie gerade Lust haben, zu überzeugen und ein unendliches und ungenaues Geplauder zu betreiben. Wir denken, daß der RAF in dieser Angelegenheit ein Großteil der Verantwortung zukommt. Seit langer Zeit entwickelt sie in ihrem Diskurs wie in ihrer Praxis viele Zusammenhanglosigkeiten und Verwirrungen, was ein Zeichen für den unbestreitbaren Mangel an ideologischer Klarheit ist. So etwas greift allmählich um sich.
Die konfuse Ausdrucksweise des Briefes vom 10. April hält einer strengen Analyse nicht stand. Die allgemeine Position im gesamten Text läßt weder mehrere Interpretationen noch Zweifel zu. Sie ist weder zweideutig noch unbestimmt, und daß sie sehr ungeschickt formuliert ist, reicht nicht, um den „Abschied von den Waffen“, den sie in sich birgt, unter einem Schleier von Ehrenhaftigkeit zu verbergen.
Übrigens müssen wir diesem Dokument ein großes (aber einziges) Verdienst anerkennen: Es beleuchtet die Sterilität des subjektivistischen Vorhabens der RAF seit zehn Jahren und gibt sie zu. Ach, es ist wirklich schade, daß diese Aufklärung und dieses Zugeständnis nicht aus einer Annäherung an den Marxismus-Leninismus hervorgehen, also aus einer Entfernung vom Subjektivismus (zum Beispiel durch eine Ablehnung des Militarismus, die wir begrüßen könnten), sondern im Gegenteil aus einer erneuten Demonstration des Subjektivismus, diesmal im allgemeinen Rahmen eines opportunistischen Debakels. Wenn sie sich in die Überlegungen und Konzeptionen, die in diesem Brief dargestellt sind, versteigt, wird die RAF die revolutionäre Bühne verlassen und alle politischen und ideologischen Fehler konservieren, die wir von ihr kennen und die wir bereits kritisiert haben – und sie wird diese Bühne ohne Hoffnung auf Wiederkehr verlassen.
Es geht also darum, präzise und klar über die verschiedenen Punkte nachzudenken, die im Dokument vom April angeschnitten wurden. Denn den „Abschied von den Waffen“, der in diesem Text beschlossen wurde, politisch und ideologisch zu bekämpfen, heißt in erster Linie, den Subjektivismus und seinen Nachfolger, den Opportunismus, beide in all ihren Formen zu bekämpfen, seien sie bewaffnet oder nicht. Ist denn schließlich der aktuelle „Abschied von den Waffen“ etwas anderes als die allerletzte und spektakuläre Etappe einer langen politischen Abweichung? Stammt der schlimmste Fehltritt, der von der RAF begangen wurde, nicht aus der Mitte der 70er Jahre, als die Organisation begann, sich offen vom Marxismus und einer siegesgewissen Strategie loszusagen?
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Der Brief vom 10. April beginnt mit einer Art lascher strategischer Reflexion/Bilanz. Es ist die Rede vom Scheitern der von der RAF in den letzten Jahren entwickelten Strategie, aber nichts von den Urhebern des Kampfes, der Art der Auseinandersetzung, der kurz- oder langfristig angestrebten Ziele etc. wird näher bestimmt. Es ist immer nur die Rede von „wir“, von der „kraft, die wir gegenmacht von unten genannt haben“, einer „gesellschaftlichen alternative hier und heute“, „um befreiung kämpfen“, was eher ungenügend ist, um eine ernsthafte revolutionäre strategische Reflexion anzustellen. Jedoch ist dies für die RAF vollkommen ausreichend, um der Ansicht zu sein, ihre Erfahrung zeige, daß „die guerilla in diesem prozeß (wir vermuten, daß es sich um den revolutionären prozeß handelt] (…) nicht im mittelpunkt stehen kann“. Noch selbstkritischer präzisiert die RAF sogar, daß „gezielt tödliche aktionen (…) die gesamte situation alles, was in den anfängen da ist und für alle (…) eskalieren.“
Dieser erste Teil setzt sich in einem zweiten fort.
Das berühmte „alles, was in den anfängen da ist und für alle, die auf der suche sind“ impliziert „als ganz wesentlichen teil den kampf für die freiheit der politischen gefangenen“. Nach Meinung der RAF eine in bestimmtem Maße glaubwürdige Perspektive. Der Justizminister hätte sich tatsächlich zum Repräsentanten einer Fraktion der Bourgeoisie gemacht, die verstanden hat, daß sie die sozialen Widersprüche nicht durch Repression lösen kann. Sich stillschweigend an diese aufgeklärte Fraktion wendend, fügt die RAF der Liste noch andere Forderungen hinzu: Die Gefängnisse müssen angemessen sein, alle müssen über einen Wohn- und Lebensraum verfügen, die Bürger der Ex-DDR müssen über eine Selbstbestimmung verfügen, der herrschende Diskurs darf nicht mehr rassistisch sein etc. etc.
Das Dokument endet mit einem drittem Teil, dessen Naivität und Logik zu denken geben: Die Antwort, die der deutsche Staat auf diese Forderungen gibt, wird zeigen, ob der politische Reformismus praktikabel ist oder nicht! Und darauf bedacht, diesen Schritt, der ebenso platt reformistisch wie anmaßend ist und gemünzt auf den „prozess von diskussion und aufbau“, zu schützen, kündigt die RAF an, ihre „eskalation“ aufzugeben. Aber Vorsicht, wenn der Staat seinerseits den besagten Prozeß nicht ernst nimmt, nun, dann wird die RAF besagte Eskalation wieder aufnehmen … obwohl diese einige Abschnitte weiter oben als, strategisch unheilvoll betrachtet wurde. Der letzte Satz des Briefes schließt mit einer überwältigenden Redekunst: „auch wenn es nicht unser interesse ist (wir unterstreichen dies]: krieg kann nur mit krieg beantwortet werden“. In etwa ist dies Rache bis zum Tod.
Es ist seit langem offensichtlich, daß der Hauptfehler der RAF in ihrer Fehleinschätzung – ihrer Ablehnung? – des historischen Materialismus besteht. Beispielhaften Mut und revolutionäre Selbstaufopferung verbinden die deutschen Genossinnen und Genossen mit einem unerschütterlichen Subjektivismus. Leider reichen Heroismus und Hingabe nicht aus, um den revolutionären Erfolg zu garantieren. Die Revolution ist nicht nur eine Sache von Personen und des guten Willens. Sie ist ein historisches Phänomen, das auf die objektiv sozial Bestimmenden antwortet.
Es wäre höchste Zeit für die RAF, über diese wesentliche Dimension des revolutionären Kampfes nachzudenken und ihre allgemeinen Vorhaben, ihre Analyse der objektiven Realität, ihr Verständnis der historischen Mechanismen, ihre strategischen und taktischen Auffassungen, ihre kurz- und langfristigen Ziele etc. darzulegen. Kurz, all das, was traditionsgemäß abhängig aus einer Plattform, aus Thesen und aus einem Organisationsprogramm hervorgeht. Wer könnte denn ohne dies jemals überhaupt wirklich und genau wissen, was die RAF denkt und will? Wie könnte die RAF selbst wissen, was sie denkt und will? Wie könnte sie ihren Kampf organisieren und führen?
Was für einen Sinn hat es, von revolutionärer Strategie zu sprechen ohne überhaupt klar definiert zu haben:
- was die konkreten Vorhaben des revolutionären Prozesses sind (z.B. was denkt die RAF von der Diktatur des Proletariats, vom sozialistischen Aufbau?)
- was darin der Hauptgegenstand ist (z.B. was denkt die RAF über das Proletariat? Wie definiert sie es? Welche Rolle erkennt sie ihm zu?)
- wie dieser sich entwickelt (z.B. wie geht die RAF das Problem der objektiven und subjektiven Bedingungen des revolutionären Prozesses an? Die Rolle der Partei?). Dies ist unserer Meinung nach die erste Arbeit, die die RAF zu leisten hätte und die sie der deutschen revolutionären Bewegung und dem deutschen Proletariat unterbreiten müßte.
Die RAF stellt ehrlich fest, daß sie sich in der Sackgasse befindet. Sie bringt für diese Sachlage verschiedene Erklärungen vor, die uns nur ihre Schwäche in der Analyse zu zeigen scheinen. Zuerst der Zusammenbruch des Revisionismus und das aktuelle Debakel des ehemaligen Ostblocks in der innerimperialistischen Auseinandersetzung … Aber wer konnte noch glauben, daß diese Länder – in irgendeiner Art – Träger einer authentischen Dynamik oder eines authentischen revolutionären Einflusses waren? Daraufhin das Scheitern des Projekts, „im gemeinsamen internationalen Kampf einen durchbruch zur befreiung zu schaffen“… Wenn es um anti-imperialistische Bewegung in der Dritten Welt geht, so weicht sie seit bald fünfzehn Jahren zurück, und wenn es um die illusorische „Westeuropäische Guerillafront“ geht, so hat sie nur durch das journalistische Sensationsbestreben gelebt.
So sehr wir also mit dem Schluß, den die RAF gezogen hat, übereinstimmen, daß nämlich der revolutionäre Kampf sich nur auf den objektiven sozialen Bedingungen eines jeden Volkes gründen kann, so sehr glauben wir auch, daß sie in diesen besonderen Fall eher zu diesem Schluß gekommen wäre, hätte sie einfach einen Klassenstandpunkt eingenommen oder den Reichtum an Analyse und Erfahrung der Internationalen Kommunistischen Bewegung studiert.
Dies ist ein Punkt, der umso entscheidender ist, als die Richtigstellung, die von der RAF vorgenommen wird, mit einer Abweichung einhergeht, die ihr jeden Vorteil ruiniert. Wenn sie ihr Hirngespinst der internationalen „Front“ aufgibt, indem sie sich der nationalen sozialen Realität zuwendet, so hat die RAF bei der gleichen Gelegenheit ihren revolutionären Grund und ihre politisch-militärische revolutionäre Verantwortung als Avantgarde preisgegeben.
Wir haben bereits weiter oben in unserer Kritik auf das Fehlen einer allgemeinen Definition seitens der RAF hingewiesen, ein Fehlen von Bezugnahmen, das einen wirklichen politischen Austausch praktisch unmöglich macht. Das Problem taucht wieder auf, wenn man entdeckt, daß die RAF unbekümmert das revolutionäre Ziel aufgibt und gelassen ihre Avantgarderolle (und Gott weiß, wieweit sie diese Rolle 1972 für die gesamte revolutionäre Bewegung der Metropolen ausfüllte … bis zu dem Punkt, an dem sie [die RAF, A.d.Ü.] noch heute deren Aura auskostet!) austauscht gegen ein Mitläufertum in der „alternativen“ Bewegung.
Der wirkliche Inhalt der von der RAF im Moment vertretenen Positionen ist der folgende: Weil sie ihre militaristischen Illusionen sich nicht erfüllen sah, sucht die RAF eine neue Art, mit dem „alternativen“ Sumpf zu fusionieren, eine Fusion, nach der sie offen seit 1982 strebt. Damals – die Sache mußte stattfinden, indem der Sumpf liquidiert wurde – schrieb die RAF zu diesem Thema in „guerilla, widerstand und antiimperialistische front“: „da ist nichts mehr von systemveränderung und ‚alternativen modellen’ im staat. sie sind nur noch skurril.“ Zehn Jahre später sind die Militanten der RAF für die gleiche Sache bereit, die Liquidierung ihrer Organisation anzubieten. Dies ist das logische Ergebnis ihrer frontistisch-strategischen und gegen die Partei gerichteten Abweichung. Anstatt sich mit Unabhängigkeit und Bestimmtheit an die Avantgarde des revolutionären Kampfes zu halten, dadurch, daß:
- eine Selbstkritik und eine offensive Neuorientierung auf der Basis des Marxismus-Leninismus vorgenommen werden;
- die Strategie und die Taktik, die zur Erhebung des allgemeinen Niveaus des Kampfes in Deutschland notwendig sind, angenommen werden;
- mehr und mehr kämpferische Proletarier und Revolutionäre mobilisiert, rekrutiert und organisiert werden, etc.; beabsichtigt die RAF eher, sich in der marginalen Masse aufzulösen und vor den aktuellen Wünschen und Grenzen des „alternativen“ Sumpfes zu kapitulieren.
Natürlich muß die revolutionäre Organisation niemals von den (proletarischen!) Massen abgeschnitten sein, aber dies darf sie niemals dahin führen, auf ihre politische Unabhängigkeit zu verzichten und sich von einer autonomen Aktivität loszusagen.
Nun können wir im Dokument vom April lesen, daß die RAF das Problem ihrer Rolle und ihres Einflusses mit den folgenden Worten darstellt: „wir hatten unsere politik ganz stark auf angriffe gegen die strategien der imperialisten reduziert und gefehlt hat die Suche nach unmittelbaren positiven zielen und danach, wie eine gesellschaftliche Alternative hier und heute schon anfangen kann zu existieren.“ Was bedeutet das? Daß, weit davon entfernt, die Kritik anzunehmen, die schon hundert Mal an der „anti-anti„-Strategie der „antiimperialistischen„‘ Strömung geübt wurde, deren militaristischer Fahnenträger sie war („unsere strategie ist es, gegen ihre strategie zu sein“ etc.), die RAF die Konstruktion und die Struktur einer starken kommunistischen Bewegung nicht als „positives Vorhaben“ betrachtet. Dahingegen erscheint die vulgärste Art von Reformismus, der als „positiv“ nur diejenigen Ziele ansieht, die kurzfristig und im kapitalistischen System erreichbar sind den Augen der RAF als die verlockendste strategische Option. Und der vollkommene Opportunismus setzt dem Ganzen die Krone auf: Hört man nicht, daß die RAF darauf bedacht ist, „eigene soziale werte in ihren alltag“ derjenigen sich entfalten zu lassen, die Ihr nahestehen? Und dann noch, daß sie beabsichtigt, sich umzustellen auf eine „zeit, in der es für alle, um ein sich-finden auf neuer grundlage geht“? Der revolutionäre Prozeß verlangt also keinen Prozeß der Aneignung von Klassenbewußtsein mehr? Ist es also nicht mehr die Verantwortung der Revolutionäre, dieses Bewußtsein aufrechtzuerhalten und dadurch der Aneignung durch die Bildung zu dienen – gegen die Entfaltung einer „Spontaneität“, die unvermeidlich nach den Kategorien der herrschenden Ideologie gestaltet ist?
Mit ihrem Brief vom 10. April verstärkt die RAF früher als erwartet ihren philosophischen Idealismus und ihren politischen Subjektivismus. Betrachten wir nun ihren Standpunkt und ihre konkreten Projekte im Rahmen der aktuellen sozialen und politischen Situation in Deutschland. Die RAF ist der Meinung, daß sie einer „gesellschaftlichen alternative hier und heute“ keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Eine Alternative, die, so glaubt man, griffbereit ist, denn „... daß das hier möglich ist, daß es geht, so etwas anzufangen, haben uns die erfahrungen, die andere erkämpft haben, gezeigt“. Weiter noch präsentiert die Organisation eine Liste von sozialen Reformen, die zu verwirklichen sie den Staat auffordert. Wir denken, daß all dies von einem phänomenalen Unverständnis der Wirklichkeit herrührt.
Zuerst die Frage nach einer „alternative“ zur Gesellschaft; worum handelt es sich? Es handelt sich um eine zwangsläufige Randposition. Ein Rand, der nur von Kleinbürgern oder deklassierten Elementen besetzt werden kann. Wie können diese Kategorie und ihr Rahmen – spezifische Bestrebungen und Interessen – eine zu verallgemeinernde revolutionäre Entwicklung bilden? Die Revolution ist eine Sache sozialer Klassen, „hier und heute“ eine proletarische Sache. Die Revolution hat nichts mit einer Alternative zur Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft zu tun, aber alles mit einer Umwandlung der Gesellschaft, der gesamten Gesellschaft. Die Art, mit der die bürgerliche Macht gelegentlich auf die besonderen Forderungen des alternativen Sumpfes eingehen kann, ist mit dem Klassenwiderspruch, der die ganze Gesellschaft durchzieht, nicht zu vergleichen. Sich auf den Erfolg beim ersten Mal zu beziehen, um vorzugeben, daß andere ebenso erreichbar sind, ist ganz einfach irrig. Würde man jemals die Bourgeoisie sehen, wie sie die Interessen der Unterdrückten einräumt oder verteidigt? Es ist absurd, sich so etwas vorzustellen, weil diese Verteidigung eben über die EIiminierung (und nicht die „alternative“ Ausrichtung) der Bourgeoisie und ihres sozialen Systems geschieht.
Der philosophische Idealismus und der opportunistische Subjektivismus der RAF haben sie dahin geführt, zu glauben, daß die bürgerliche Macht frei sei zu tun, was sie wolle, und daß sie sogar für eine Art rationalen, überlegenen Verstand zugänglich sei. Zu ihrer Liste sozialer Forderungen erklärt die RAF, daß die Antwort, welche die Macht erbringt, zeigen wird, „wie weit hier ein politischer raum für lösungen erkämpft werden kann“. Aber wer könnte jemals glauben, daß es interklassistische Lösungen für den Kapitalismus, seine antagonistischen Widersprüche, für den Anstieg der Ausbeutung und die durch seine Krise induzierte soziale Degradierung gibt? Die Bourgeoisie hat nicht die Wahl zwischen einer ausgleichenden Intelligenz und einer „provozierenden und draufgängerischen“ Haltung; sie ist die herrschende Klasse im Kapitalismus, die aus der kapitalistischen Ausbeutung Profit zieht und diese verteidigt, – eine Klasse, die weder etwas anderes sein, noch außerhalb des Rahmens ihrer eigenen Gesetze handeln kann. Wenn es eine Lösung für die Widersprüche gäbe, die den Kapitalismus unterminieren und dazu führen, daß er gestürzt wird, wenn es interklassistische Lösungen für die ökonomische Krise gäbe, glaubt die RAF nicht, daß die bürgerlichen Herrscher diese nicht längst entdeckt und angewandt hätten?
Was bleibt in dem neuen Schritt der RAF vom dialektischen materialistischen Verständnis der Geschichte, vom wissenschaftlichen, aufrichtigen Vertrauen in die revolutionäre Zukunft? Nichts, einfach nichts. Wenn man den deutschen Genossinnen und Genossen glaubt, wäre das kapitalistische System von innen her reformierbar; dazu würde ausreichen, daß die Bourgeoisie dies versteht, – und natürlich macht es nichts, wenn dies ihren eigenen Interessen entgegensteht. Die sozialen Reformen wären zu allen Zeiten erreichbar, von dem Augenblick an, in dem die Bourgeoisie die Intelligenz dafür besäße (oder muß man ihr vielleicht helfen?); der soziale Frieden wäre zu allen Zeiten erreichbar, von dem Augenblick an, in dem die Bourgeoisie den Willen dazu besäße (idem)! Schließlich faßt die RAF nun den Kapitalismus als ein Produkt der Bourgeoisie auf und nicht die Bourgeoisie als ein Produkt des Kapitalismus.
Ein spezieller Punkt verdient, gesondert behandelt zu werden. Es handelt sich um die Frage der Gefangenen und eventueller Entlassungen oder Haftverbesserungen. Wir denken, daß wir bei diesem Thema äußerst vorsichtig sein müssen. Die taktischen Manöver sind häufig komplex und können nur mittels der gesamten Kenntnis aller ihrer Verhältnisse richtig bewertet werden; auch enthalten wir uns jeglicher kategorischer Beurteilung. Trotzdem verstecken wir unsere Verwirrung nicht und wollen einige Überlegungen darlegen.
Wir denken natürlich, daß es nicht unwesentlich ist, sich um die Entlassung der Genossinnen und Genossen zu bemühen, und daß es richtig ist, daß eine kämpfende Organisation alle Möglichkeiten und Gelegenheiten zu diesem Zweck ausschöpft, also auch die Verhandlung, wenn sie glaubwürdig ist. Aber zu keinem Zeitpunkt kann dies auf Kosten des Kampfes, seiner Zukunft und seiner grundlegenden Vorhaben geschehen. Der revolutionäre Kampf verursacht zwangsläufig eine Repression: der revolutionäre Sieg wird immense Opfer erfordern, dies ist ein historisches Gesetz und sich davor vorrangig zu schützen suchen, führt zwangsläufig zur Aufgabe des Kampfes.
Der Justizminister habe Anfang des Jahres angekündigt, die Entlassung einiger sehr lang Inhaftierter oder Gefangener, deren Gesundheitszustand sich verschlechtert habe, sei in Betracht zu ziehen. In Wirklichkeit nichts Beweiskräftiges, im Gegenteil, perfider Druck auf die geweckte Hoffnung. Analysiert die RAF klar die Situation? Überschätzt sie in diesem Fall nicht ihre Kraft, ihr Gewicht? Wird sie nicht dorthin gelenkt, wohin zu lenken sie glaubt?
Daß eine bürgerliche Fraktion, die euphorisch ist, weil sie denkt, sie habe noch einmal die Grundlagen eines „Tausendjährigen Reiches“ gelegt (diesmal heißt es „Neue Weltordnung“) die sich humanistischem und – publikumswirksamem! – Sanftmut gegenüber einer Handvoll erfahrener Genossinnen und Genossen hingibt, darf nicht mit einem defensiven Rückzug des Feindes verwechselt werden. Im Gegenteil! Übrigens, soviel wir wissen, ist der Minister damit beschäftigt, die Repression gegen andere Gefangene zu verschärfen (besonders dank der Kollaboration ehemaliger Militanter, heute Kollaborateure, die in der Ex-DDR festgenommen wurden). Die – verbale – Eröffnung von Kinkel, beabsichtigt sie schließlich etwas anderes, als eine noch grausamere Repression gegen diejenigen zu rechtfertigen, die ihre Ideen und ihre kämpferische Integrität behalten? Ist sie nicht eine Täuschung, um die authentischen revolutionären Kräfte zu schwächen? Ist sie nicht ein wirkungsvoller Betrug, der schon Resultate zeigt, weil man feststellt, daß er die RAF schon dahin geführt hat, ihre Sache, ihre Unabhängigkeit und ihre Waffen am Rande des Sumpfes zurückzulassen? Für vage, barmherzige Versprechungen, die schon durch eine repressive Verschärfung dementiert wurden, hat die RAF nicht gezögert, öffentlich ihr Erbe von zwanzig Jahren des Kampfes zu liquidieren.
Wir werden jetzt schließen. Wir hoffen, daß der Brief vom 10. April nicht die Gedanken aller deutschen Genossinnen und Genossen und besonders der Gefangenen wiedergibt, die sicher nicht erfreut darüber sind, daß man dem Preis, den sie zahlen, die Negation ihres politischen Engagements und die Liquidierung ihrer Organisation hinzufügt. Der Weg der RAF ist seit ihren Ursprüngen so gewunden, daß es schwierig ist, den Gedanken zu akzeptieren, daß alle mit jeder einzelnen seiner politischen Windungen direkt verbunden waren. Wir hoffen, daß – ist die Rauchwolke einer konfusen Formulierung einmal aufgelöst – die Genossinnen und Genossen der RAF Kenntnis von der subjektivistischen und opportunistischen Natur der Positionen nehmen werden, die sie in ihrem Dokument vom April vorgebracht haben; daß sie es als einen Fehler auf ihrem Weg ansehen, es als null und nichtig betrachten und schließlich die realen Probleme meistern werden, die sich ihrer Organisation und der deutschen revolutionären Bewegung stellen. Und dies auf einer wirklich revolutionären Grundlage, die den selbstkritischen Verstand verbindet mit dem Willen, den Reichtum der Internationalen Kommunistischen Bewegung, der im Marxismus-Leninismus zusammengefaßt ist, in seinem Wert zu erkennen und zur Geltung zu bringen.
Anfang der 70er Jahre hat die RAF im Wiederaufbau der europäischen revolutionären Bewegung eine unschätzbare und unersetzbare Rolle gespielt. Auch wenn zum Ende dieser Jahre immer schwerere Fehler gemacht wurden, vergessen wir niemals, wie viel wir ihr schulden, ihr und ihren heldenhaften Gründerinnen und Gründern, die auf Befehl desjenigen Staates massakriert wurden, mit dem zusammenzuarbeiten der Brief vom 10. April einlädt … Wir haben genug Vertrauen in die Dynamik der deutschen revolutionären Bewegung, um eine energische Reaktion gegen diese verheerende und nicht zu rechtfertigende Erklärung abzuwarten, gegen den Prozeß der politischen und ideologischen Abweichung, dem sie die Krone aufsetzt und hoffen, daß die Militanten der RAF ihren alten und ruhmvollen Platz in den ersten Rängen der europäischen revolutionären Bewegung wieder einnehmen können.
Für die Einreihung der Roten Armee Fraktion in die Erfahrung der Internationalen Kommunistischen Bewegung, die im Marxismus-Leninismus zusammengefaßt ist!
Ehrenvolle Erinnerung an die Genossinnen und Genossen, die im Kampf und in den Gefängnissen getötet wurden!
Ehrenvolle Erinnerung an die Genossen vom Kommando Martyr Halymeh, die in Mogadischu getötet wurden!
Es lebe der proletarische Internationalismus!
17. Oktober 1992
Quelle:
Broschürengruppe in Zusammenarbeit mit dem ASTA-FU sowie Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Wolf Dieter Narr, Uwe Wesel, Harald Wolf (Hg.)
Für eine neue revolutionäre Praxis. Triple oppression & bewaffneter Kampf. Eine Dokumentation von antiimperialistischen, feministischen, kommunistischen Beiträgen zur Debatte über die Neubestimmung revolutionärer Politik 1986-1993
Selbstverlag: Berlin, 1. Aufl. 1994, 2. Aufl. 1995, S. 110 – 113.
Auf S. 207 der Broschüre heißt es zur Herkunft des Textes:
„Der Text wurde von der interim (s. Nr. 233, 25.03.1993, S. 2) in ihre in verschiedenen Berliner Info-Läden zur Verfügung stehenden Ordner mit von ihr nicht veröffentlichten Text aufgenommen. Später erschien der Text in: Agitare Bene (Hg.), Dokumentation zur Auseinandersetzung RAF<>politische Gefangene<>Widerstand, Selbstverlag: Köln, 1993, 31 – 36.“