[153]
„KOMMUNISMUS“
„Zeitschrift der Kommunistischen Internationale für die Länder Südosteuropas“ (in deutscher Sprache), Wien, Heft 1/2 vom 1. Februar 1920 bis Heft 18 vom 8. Mai 1920
Diese ausgezeichnete Zeitschrift, die in Wien unter dem angeführten Titel erscheint, bringt sehr viel interessantes Material über das Wachstum der kommunistischen Bewegung in Österreich, Polen und anderen Ländern, daneben eine Chronik der internationalen Bewegung und Artikel über Ungarn, Deutschland, über die allgemeinen Aufgaben, die Taktik usw. Einen Mangel, der bereits bei flüchtiger Durchsicht sofort ins Auge springt, dürfen wir nicht unerwähnt lassen. Ich meine die unzweifelhaften Symptome jener „Kinderkrankheit des ‚linken Radikalismus’ im Kommunismus“, an der die Zeitschrift leidet und der ich eine kleine, soeben in Petrograd erschienene Broschüre gewidmet habe.
Drei Symptome dieser Krankheit in der ausgezeichneten Zeitschrift „Kommunismus“ möchte ich hier gleich in aller Kürze vermerken. In Nr. 6 (vom 1. III. 1920) ist ein Artikel des Genossen G. L. enthalten: „Zur Frage des Parlamentarismus“, den die Redaktion als Diskussionsartikel bezeichnet und von dem (zum Glück) Genosse B. K. der Verfasser des Artikels „Die Durchführung des Parlamentsboykotts“ (Nr. 18 vom 8. V. 1920), eindeutig abrückt, indem er erklärt, daß er den darin vertretenen Standpunkt nicht teilt.
Der Artikel von G. L. ist ein sehr radikaler und sehr schlechter Artikel. Der Marxismus darin ist ein Marxismus der bloßen Worte. Die Unterscheidung zwischen „defensiver“ und „offensiver“ Taktik ist ausgeklügelt. Es fehlt eine konkrete Analyse ganz bestimmter historischer Situationen, das Wesentlichste (die Notwendigkeit, alle Arbeitsgebiete und Einrichtungen, durch welche die Bourgeoisie ihren Einfluß auf die Massen [154] ausübt usw., zu erobern und erobern zu lernen) bleibt unberücksichtigt.
In Nr. 14 (vom 17. IV. 1920) kritisiert Gen. B. K. in dem Artikel „Die Ereignisse in Deutschland“ die Erklärung der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 21. III. 1920, an der ich in meiner Broschüre ebenfalls Kritik übe. Doch der Charakter unserer Kritik ist von Grund aus verschieden. Gen. B. K. übt Kritik auf Grund von Zitaten aus Marx, die sich auf eine der jetzigen ganz unähnliche Situation beziehen, lehnt die Taktik der Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands rundweg ab und umgeht vollkommen das Allerwichtigste. Er umgeht das, worin das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus besteht: die konkrete Analyse einer konkreten Situation. Wenn die Mehrheit der städtischen Arbeiter von den Scheidemännern zu den Kautskyanern übergegangen ist und wenn sie innerhalb der Kautskyschen (von der richtigen revolutionären Taktik „unabhängigen“) Partei immer mehr vom rechten Flügel zum linken, d. h. faktisch zum Kommunismus übergeht, wenn die Dinge so stehen – darf man da die Aufgabe, Übergangsmaßnahmen, Kompromisse in bezug auf diese Arbeiter ins Auge zu fassen, mit einem Achselzucken abtun? Ist es statthaft, die Erfahrung der Bolschewiki, die im April und Mai 1917 im Grunde genommen eben eine Politik des Kompromisses durchführten, als sie erklärten: Wir können die Provisorische Regierung (von Lwow, Miljukow, Kerenski u. a.) nicht einfach stürzen, denn hinter diesen Leuten stehen noch die Arbeiter in den Sowjets; wir müssen zuerst erreichen, daß die Mehrheit oder ein beträchtlicher Teil dieser Arbeiter ihre Ansichten ändert – ist es statthaft, diese Erfahrungen zu mißachten, zu verschweigen?
Mir scheint, das ist nicht statthaft.
Schließlich enthüllt der erwähnte Artikel des Gen. B. K. in Nr. 18 des „Kommunismus“ besonders klar, anschaulich und einleuchtend seinen Fehler, der darin besteht, mit der Taktik des Boykotts der Parlamente im Europa von heute zu sympathisieren. Denn indem der Autor sich vom „syndikalistischen Boykott“, vom „passiven“ Boykott abgrenzt und einen besonderen „aktiven“ (ach, wie „radikal“!…) Boykott ausheckt, zeigt er mit verblüffender Deutlichkeit, wie grundfalsch sein Gedankengang ist.
„Der aktive Boykott“, schreibt der Verfasser, „bedeutet, daß die Kommunistische Partei sich nicht mit der Ausgabe der Parole gegen die Beteiligung an [155] Wahlen begnügt, sondern im Interesse der Durchführung des Boykotts ebenso ausgedehnte revolutionäre Agitation entfaltet, als ob sie in die Wahlen eingetreten wäre und ihre Agitation und Aktion“ (Arbeit, Tätigkeit, Aktivität, Kampf) „auf die Gewinnung der erreichbar höchsten Zahl von Proletarierstimmen eingestellt hätte.“ (S. 552)
Das ist eine wahre Perle. Das wird die Antiparlamentarier besser töten als jede Kritik. Einen „aktiven“ Boykott zu erfinden, „als ob“ wir an den Wahlen teilnähmen!! Massen von unaufgeklärten und halbaufgeklärten Arbeitern und Bauern nehmen allen Ernstes an den Wahlen teil, denn sie glauben noch an die bürgerlich-demokratischen Vorurteile, sie sind noch in diesen Vorurteilen befangen. Aber anstatt den unaufgeklärten (wenn auch mitunter „kulturell hochstehenden“) Spießern zu helfen, ihre Vorurteile auf Grund eigener Erfahrung zu überwinden, sollen wir vor der Teilnahme am Parlament zurückscheuen, sollen wir uns damit amüsieren, eine Taktik auszuhecken, die unberührt ist vom bürgerlichen Schmutz des Alltagslebens!!
Bravo, bravo Genosse B. K.! Mit ihrer Verteidigung des Antiparlamentarismus werden Sie die Dummheit rascher erledigen helfen als ich durch meine Kritik.
12. VI. 1920
Veröffentlicht 1920. Nach dem Manuskript.
Quelle:
W. I. Lenin, „Kommunismus“ (1920), in: ders., Werke. Band 31, Dietz: Berlin/DDR, 19787, 153 – 155.