Harald Piotrowski schreibt bei Graswurzelrevolution via Linksnet via systemcrash:
„Von linksnationalistischer Seite wird […] geltend gemacht, dass […] man/frau sich […] dem ‚(Arbeiter-)Volk‘ zurechne und dieses sei doch (per definitionem) ‚fortschrittlich‘. Dementsprechend gelte es, eine ‚Volksrepublik‘ zu installieren, die sich natürlich diverse Versprechungen nach mehr sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit zueigen gemacht hat. Diese sind aber, je nach sozialem und politischem Milieu, entweder so diffus gefasst, dass sich jede/r ihren oder seinen Teil dabei denken kann, bzw. gehen nicht darüber hinaus, was sich die klassische Sozialdemokratie zu ihren Hochzeiten dazu hat einfallen lassen (Verstaatlichungsprogramme, Nationalbank, Reichenbesteuerung, usw.).
‚Volk‘, ‚Nation‘ als leere Hülsen
Kaum eine Idee wird daran verschwendet, das Scheitern eines derartigen Neokeynsianismus auch nur kritisch unter die Lupe zu nehmen (z.B. der völlige Bankrott einer Syriza in Griechenland, ganz zu schweigen von ähnlichen Versuchen in Lateinamerika), stattdessen der abgeleierte Kalauer, wenn nur das ‚Volk‘ das Sagen hätte, würde man schon mit den internationalen politischen und ökonomischen Institutionen und Verflechtungen fertig und könne sie unter nationale Aufsicht stellen. Völlig unproblematisch anscheinend auch der emphatische Volksbegriff, auch wenn dieser nicht ganz so belastet ist wie in Deutschland, da hier die Parole von den 99% (des Volkes) gegen die 1% (von Milliardären, Bankern, usw.) wieder fröhliche Urständ feiert, obwohl der bloße Augenschein der allermeisten Alltagsreligionen und Praxen dieser (durchaus gewollten) Vereinfachung ins Gesicht schlägt. Dass dieses ‚Volk‘ durchaus gegeneinander gerichtete Partikular- und Gruppeninteressen verfolgt, dass sich die allgemeine Konkurrenz der Warensubjekte bis hinein in die Psyche der Individuen hinein verlagert hat und vom traditionellen Klassenkampf bestenfalls nur noch Spurenelemente erhalten haben, wird geflissentlich unterschlagen.
Ok, ok, werden hier viele rufe[n], aber es ginge doch gar nicht um eine adäquate Analyse, sondern ‚Volk‘, ‚Nation‘, ‚Republik“, ‚Demokratie‘ seien doch politische ‚Kampfbegriffe‘, die es ermöglichen sollen, die Leute zu ‚ermächtigen‘, ihnen Erfahrungen zu ermöglichen, die verschiedensten sozialen Auseinandersetzungen zu kondensieren, um sich als ‚politisches Subjekt‘ zu konstituieren. Die Mobilisierung für die katalanische Selbstbestimmung bzw. Nation würde dies leisten und im nächsten Schritt auch auf anderen Ebenen die Selbsttätigkeit der Leute vorantreiben.Problematisch erscheint mir hier:
Begriffe wie ‚Volk‘, Nation‘ und so weiter werden als leere Hüllen (‚leere Signifikanten‘) angesehen, die man/frau glaubt mit ‚progressiven‘ Inhalten füllen zu können, je nach den ominösen ‚Kräfteverhältnissen‘ eben, ganz so, als ob diese realen gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen mit ihren inneren Dynamiken und Begrenzungen beliebig ‚besetzbar‘ wären und, halt mit dem richtigen Personal ausgestattet, schon neue gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsverhältnisse in Gang setzen könnten.“
Ich stimme fast völlig zu (außer bzgl. der pejorativen Rede über den Begriff „Kräfteverhältnisse“) und hatte meinerseits schon im vergangenen Jahr – im Nachgang zu einem Vortrag von Ètienne Balibar bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung – dieses Bildchen entworfen:
Dazu hatte ich geschrieben:
„Für den Kampf für die Überwindung von Herrschaft und Ausbeutung ist es nicht hilfreich, ‚Volksfronten für Frieden und Fortschritt’ (oder andere leere Signifikanten1 à la Ernesto Laclau2) zu gründen. Vielmehr sollten es m.E. entweder
- Bündnisse für ganz konkrete, tagespolitische Ziele (z.B.: Arbeitszeitverkürzung, Verschärfung des Sexualstrafrechts)
oder
- aber allgemeinere, aber nicht leere (!), politische Signifikanten (z.B.: Bündnis gegen Patriarchat, Rassismus und Kapital)
sein. Es dagegen bei möglichst entleerten Signifikanten (‚Volk‘ statt [annäherungsweise3] ‚Lohnabhängige, Frauen und Schwarze‘; ‚Demokratie‘ oder ‚wahre Demokratie‘ statt ‚Rätedemokratie‘; ’soziale Gerechtigkeit‘ statt ‚Antikapitalismus‘; ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ statt ‚Feminismus‘ etc.) zu belassen, verflacht dagegen, wie Frieder Otto Wolf bereits 1988 an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe kritisierte, die Frage der Hegemonie zum PR-Problem des ‚Gutankommens’: […].“
- Der Signifikant = das Bezeichnende (oder: der Bedeutungsträger [oder im Falle des „leeren Signifikanten“: der ‚Nichtbedeutungs-Träger’]) – im Unterschied zu der Vorstellung oder Bedeutung, die von dem Bedeutungsträger transportiert wird. [zurück]
- „Die Abgrenzung [von „Gemeinschaften“] nach außen – und damit gleichzeitig die kollektive Identität – wird durch einen spezifischen Signifikanten, einen ‚Knotenpunkt’ in der Terminologie von Lacan, repräsentiert. Dieser Signifikant muss, um die Gemeinschaft als solche repräsentieren zu können, weitgehend von einer spezifischen Bedeutung entleert sein, […]. Laclau und Mouffe bezeichnen diesen Knotenpunkt als leeren Signifikanten. […]. Je größer die Menge der Elemente innerhalb eines solchen Zusammenhangs, desto kleiner wird deren gemeinsamer Nenner und desto unspezifischer muss auch der leere Signifikant werden – daher die Bezeichnung leerer Signifikant.“ (http://www.geographie.nat.uni-erlangen.de/wp-content/uploads/ggl_publik_hegemonieunddiskurstheorie_100120.pdf, S. 13) „Einer ‚postmarxistischen’ Linken müsste es […] darum gehen, die potentiell unendliche Menge möglicher Antagonismen so zu organisieren, dass eine breite Allianz ‚popularer’ AkteurInnen sich um einen Knotenpunkt, einen ‚leeren Signifikanten’ konstituiert.“ (http://www.grundrisse.net/grundrisse26/VonderHarmlosigkeitradikalerDemokratie.htm) In dieser Weise wird von Laclau eine halbwegs realistische Beschreibung, wie die herrschenden ideologischen Verhältnisse funktionieren, in vermeintlich emanzipatorische Strategie verdreht. [zurück]
- „Annäherungsweise“ wegen der oben angesprochenen Frage, ob und falls ja, unter welchen Bedingungen, weiße bürgerliche Frauen, weiße männliche Lohnabhängige und bürgerliche schwarze Männer zum „(einfachen) Volk“ gehören. Wiederum zeigt sich m.E. der Vorteil der Verschiebung der Frage vom Sozialen zum Politischen (Programmatischen) – ich würde sagen, sie gehören dann zur (in etwa) gemeinten politischen Gruppe, wenn sie sich dem antikapitalistischen, feministischen und antirassistischen Kampf mindestens in der Weise anschließen, wie sich der Unternehmer Friedrich Engels dem kommunistischen Kampf anschloß. [zurück]
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