Mit dem der Kritik des Ausdrucks „Unterdrückung“ und der Formulierung der These von der ‚Produktivität der Macht’ wird auch der Terminus der „Befreiung“ zumindest problematisch. Wenn z.B. die sog. „Befreiung der Lohnabhängigen“ die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise voraussetzt und die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise wiederum bedeutet, daß es danach keine Lohnabhängigen mehr gibt – läßt sich dann wirklich (strenggenommen) davon sprechen, daß die Lohnabhängigen im Kapitalismus unterdrückt, an den Boden gedrückt, aber im Kommunismus zum vollen Leben aufblühen?!
- Unstrittig sollte also sein, daß es für MarxistInnen nicht um die „Abschaffung […] dieser oder jener besondern Klassenorganisation oder dieses und jenes besondern Klassenvorrechts, sondern der Klassen überhaupt“ geht (MEW 20, 146).
- Damit sollte auch klarsein, daß der Unterschied zwischen kapitalistischer und kommunistischer Produktionsweise nicht ist, daß es in ersterer unfreie und letzterer freie Lohnabhängige gibt.
- Es geht also auch nicht um die Befreiung der Lohnabhängigen, sondern um die Befreiung der lohnabhängigen Individuen von ihrer Lohnabhängigkeit – also um die Abschaffung der Lohnabhängigkeit überhaupt.
- Unstrittig dürfte auch sein, daß die Abschaffung der Klassen, die Abschaffung die Abschaffung der KapitalistInnen einschließt, was – wie im Falle der Lohnabhängigen – nicht heißt, daß sie alle umgebracht werden, sondern daß die entsprechende gesellschaftliche Position beseitigt wird, indem die Klassenverhältnisse revolutioniert werden.
- Auch in den Bezug auf den Rassismus dürfte hoffentlich unstrittig sein, daß ihm keine biologischen menschlichen Rassen zugrundeliegen oder daß er sich auf solche bezieht, sondern es der Rassismus ist, der erst die vermeintlichen Rassen (Gruppen von rassifizierten1 Individuen) schafft, indem er
++ die Individuen rassifiziert und zu Gruppen formiert/vereinheitlicht2 – und sich dabei an willkürlich zusammengesuchte äußerliche und unterstellte ‚innerliche’ Merkmale heftet (Rassismus kann sich auch gegen ‚schneeweiße’ OsteuropäerInnen richten) –
und
++ an diese Merkmale Praxen der Herrschaft und Ausbeutung knüpft.
- Es geht also auch bei der Überwindung des Rassismus nicht wirklich um die Befreiung der Schwarzen (etc.)3, sondern um
++ die Überwindung der Klassifizierung von Menschen als schwarz
und
++ um die Überwindung der Herrschafts- und Ausbeutungspraxen, die diese Klassifizierung zur Voraussetzung haben, um funktionieren zu können. - Dem entspricht – analog zu KapitalistInnen – auch die Beseitigung der Klassifizierung als weiß. Und – wie im Falle von Lohnabhängigen und KapitalistInnen – heißt dies nicht die Beseitigung der Individuen, die unter rassistischen Verhältnissen in entsprechender Weise rassifiziert werden; und es bedeutet auch nicht, daß die Merkmale, an die der Rassismus anknüpft, beseitigt werden, sondern, daß sie gesellschaftlich bedeutungslos werden – daß die (unterschiedlichen) gesellschaftliche Positionen (Funktionen) von Weißen und Schwarzen verschwinden (genauso wie die [unterschiedlichen] gesellschaftlichen Funktionen von Lohnabhängigen und KapitalistInnen bei Überwindung des Kapitalismus verschwinden).
- In diesem Sinne hatte der Feminismus auch schon vor Judith Butler die Perspektive der Überwindung der Geschlechter – und nicht der Befreiung von Frauen, sondern der Befreiung der Individuen, die zu Frauen gemacht werden, von dieser ‚Machung’ (Sexuierung) entwickelt:
„[…] genau wie am Ende einer sozialistischen Revolution nicht nur die Abschaffung der ökonomischen Klassenprivilegien, sondern die Aufhebung der Klassenunterschiede selbst steht, so muß die feministische Revolution, im Gegensatz zur ersten feministischen Bewegung [am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts], nicht einfach auf die Beseitigung der männlichen Privilegien, sondern der Geschlechtsunterschiede selbst zielen: genitale Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten dann keine gesellschaftliche Bedeutung mehr.“4
Es geht also in allen drei Fälle um die Befreiung der Individuen von der (vereinheitlichenden) Zuordnung zu übereinander herrschenden gesellschaftlichen Gruppen; um die Befreiung von der materiellen gesellschaftlichen Positionierung, die mit diesen Zuordnungen verbunden ist.
- Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnisierung.“ [zurück]
- Differenzen sind „nicht, wie häufig in der marxistischen Diskussion unterstellt, der Mechanismus, um die Einheit einer sozialstrukturell verhandenen Klasse zu zerstören. Vielmehr werden umgekehrt die Individuen des Spiels ihrer polymorphen Differenzen beraubt und als Klasse, Geschlecht oder Rasse vereinheitlicht.“ (Alex Demirovic, Regulation und Hegemonie. Intellektuelle, Wissenspraktiken und Akkumulation, in: Alex Demirovic / Hans-Peter Krebs / Thomas Sablowski (Hg.), Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozeß, Münster, 1992, 128 – 157. 140, FN 11) [zurück]
- Ich schreibe hier „(etc.)“, weil ich selbst – anknüpfend an entsprechende Vorschläge in der antirassistischen Theoriebildung und politischen Praxis – „Schwarze“ (in Überwindung jedes ‚Hautfarben-Naturalismus’) als zusammenfassende Bezeichnung für alle rassistisch Beherrschten und Ausgebeuteten verwenden, die Rassifizierung „als …“ aber (im rassistischen Jargon) sehr vielfältig ist. [zurück]
- Shulamith Firestone, Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Fischer: Frankfurt am Main, 1975, 16, 17 – Hv. i.O.; Erläuterungen in eckigen Klammern von mir hinzugefügt. [zurück]
Ich würde Deine Thesen leicht verschieben: Die Klassifizierung von Menschen wird wohl auch in der kommunistischen Gesellschaft nicht wegfallen: Warum sollte man einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe nicht als einen solchen begreifen? Und ist es tatsächlich erstrebenswert, aus Männern und Frauen androgyne Wesen zu machen und die Kinder in der Petrischale zu züchten? In einer solch futuristischen Zukunft könnte man eigentlich gleich die Erde denkenden Maschinen überlassen. Kommunismus hieße doch eher mit den Unterschieden, Schwächen und Unzulänglichkeiten der Menschen vernünftig umzugehen, als sie in genormte Cyborgs zu verwandeln.
Insofern würde die Klassifizierung bestehen bleiben, sie hätte aber, wie Du schreibst, keine Auswirkungen über die tatsächlichen biologischen Unterschiede hinaus.
„Befreiung“ empfinde ich auch als schwierigen Begriff, weil er eng an liberale Vorstellungen gebunden ist. Mir erschien „Befreiung“ immer als ein Begriff, der durch Adorno, Bloch, Horkheimer etc. in diesem Sinne geprägt wurde. Weshalb eine gewisse idealistische Konnotation in ihm mitschwingt.
Ich würde sagen: Die jeweilige Person hat diese oder jene Hautfarbe. Diese Hautfarbe kann meinetwegen auch gem. dem RAL- oder CSS 3- oder irgendeinem anderen Farb-Schema benannt werden.
Meine These ist nur: Es ist sinnlos, Leute deren Hautfarbe in ein bestimmtes Farbspektrum A fällt, als „weiß“ und Leute, deren Hautfarbe in ein Farbspektrum B fällt, als „schwarz“ zu labeln – außer es besteht die Absicht, die beiden dadurch gebildeten Gruppen unterschiedlich zu behandeln.
Ich tendiere in der Tat zu einem Androgynitäts-Ideal. Aber selbst wenn das nicht für richtig befunden wird, besteht m.E. weder eine Notwendigkeit,
++ nur zwei Geschlechter anzuerkennen
noch eine Notwendigkeit,
++ die in den 20 Jahren schon eingetretene Geschlechter-Label-Inflation fortzusetzen,
sondern jede Person wäre halt einfach das, was sie – in dem Moment oder vielleicht auch für länger – ist.
Insofern – Zustimmung zu
auch wenn mir der Sprung von „Unterschieden“ zu „Schwächen und Unzulänglichkeiten“ ein bißchen zu schnell geht.
Wenn mehr Kinder gewünscht werden, als Menschen bereit sind, neun Monate lang mit einem Fötus im Bauch herumzulaufen, wäre das jedenfalls eine praktikable Lösung.
Ja. Allerdings gibt es auch den Eröffnungssatz aus den Statuten der IAA:
„In Erwägung,
daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß; daß der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte und Monopole ist, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;“ (MEW 16, 14)
und den Satz aus der Internationalen,
„Es rettet uns kein höh‘res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!“ (Wikipedia),
deren antipaternalistische Stoßrichtung ich richtig finde; aber das Wort „Emanzipation“ aus den IAA-Statuten scheint mir auf alle Fälle noch mehr mit dem geschichtsphilosophische Ballast der bürgerlichen Aufklärung und individualistischen Verständnissen von Gesellschaftsveränderung behaftet zu sein als „Befreiung“. Insofern scheint mir letzteres Wort zumindest provisorisch weiterhin einen begrenzten Nutzen zu haben.
Nein, es ist nicht sinnlos. Wie z. B. auch bei der Augenfarbe kann es Kontexte geben, auch noch im Kommunismus, wo diese Einteilung sinnvoll sein kann. Aber wie die Unterteilung reduziert sich dann auf die ganz wenigen Bereiche, wie z. B. unterschiedlich wirkende Medikamente.
Wie bei jeder Kategorisierung biologischer Unterschiede können zwei, drei, hundert oder Millionen Unterteilungen irgendwie begründet werden und niemand kann sagen, dass dies eine falsche Unterteilung ist, es ist aber eventuell eine mit geringerer Plausibilität. Und genau deshalb tippe ich auf die Beibehaltung von zwei Geschlechtern. So begründet Intersexualität ja nicht ein drittes Geschlecht, sondern bedeutet die Mischung aus Merkmalen beider Geschlechter. Gerade wenn wir uns halbwegs einig sind, dass biologische Unterschiede nur noch in wenigen Fällen eine Rolle spielen, wäre es doch verwunderlich, wenn man dann noch x Geschlechter mehr hätte. Diese Geschlechterinflation scheint mir eher eine Modeerscheinung zu sein, die eng an den Anything-Goes-Liberalismus seit den 80ern gebunden ist.
Was gegen Begriffe wie Emanzipation oder Befreiung spricht, sind die Menschen, die sie benutzen. Wer verwendet Emanzipation? linke, vor allem feministische Jugendgruppen, die sich zwar der Collness wegen eine radikale Attitüde geben, aber nur reformistische respektive linksliberale Forderungen erheben. Wer verwendet Befreiung? Antideutsche, die mit der tatsächlichen Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft auch nichts (mehr) am Hut haben. Diese Begriffe wurden und werden also sicherlich häufig auch in ernsthafter Absicht gesagt. Heute kommen sie aber häufig aus Mündern, die dadurch nur ihre Ablehnung des Marxismus und jeglicher Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse implizit zum Ausdruck bringen wollen.
Ja, das mag sein. Aber eine solche ‚Gruppenbildung‘ bezieht sich dann genau auf das Merkmal, von dem die Wirksamkeit des Medikaments abhängt – aber mir es kein kommunistischer Zweck ersichtlich,
++ für den dann (noch) Hautfarben-Spektren zu ‚Rassen‘ zu vereinheitlichen wäre
oder
++ für den es sinnvoll wäre, zu unterstellen, daß Erwachsene mit einer flachen Brust einen Penis zwischen den Beinen zu hängen haben oder allen bzw. den meisten, die einen hängen haben, ein „M“ in den Paß zu schreiben.
Ich würde eher sagen: Intersexualität ist ein gradueller Übergang zwischen den beiden Geschlechtern, von deren Existenz heute hegemonial ausgegangen wird.
Nur – warum dann überhaupt noch welche?