Vielleicht ist das Folgende ja hilfreich für die vom Gen. systemcrash angeregte Erarbeitung eines Althusser-Trotzki-Vergleichs – also: Warum heißt der „strukturale Marxismus“ „struktural“?
1. heißt er deshalb „struktural“, weil er wie jeder Strukturalismus1 vom Primat der Strukturen über deren Symptome einschließlich der Subjekte, die in ihnen positioniert werden, ausgeht – die Struktur ist das Bedingende (die Determinante): „Die Struktur bedingt die Funktionalität der Teile im Verbund einer Ganzheit.“ (Wikipedia)
Dies unterscheidet den „strukturalen Marxismus“ gar nicht von Marx, sondern ist einfach nur eine Wiederholung dessen, was Marx (und Lenin) selbst schon schrieb(en):
„meine analytische Methode [… geht] von […] der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode aus“ (MEW 19, 371 – Hv. i.O.)
„Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, […], den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ (MEW 23, 16 – Hv. d. TaP)
Die Verhältnisse sind die Schöpferin; die Subjekte sind die Geschöpften – das, was die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie hineingeboren werden, aus den Individuen machen:
Die „Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als „Substanz“ und „Wesen des Menschen“ vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben, ein realer Grund, der dadurch nicht im Mindesten in seinen Wirkungen und Einflüssen auf die Entwicklung der Menschen gestört wird, daß diese Philosophen […] dagegen rebellieren.“ (MEW 3, 38 – Hv. d. TaP)
Zwar trifft zu, daß die Umstände gewissermaßen „ebensosehr“ (ebd.) die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen. Allerdings sind doch diese Umstände der entscheidende Faktor, die jedenfalls Handlungsgrundlagen und Handlungsgrenzen definieren und Handlungsanlässe produzieren oder darstellen:
„Diese vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen entscheiden auch, ob die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolutionäre Erschütterung stark genug sein wird oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandnen Produktivkräfte, [Beginn von S. 39, TaP] andrerseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige ‚Lebensproduktion‘ selbst, die ‚Gesamttätigkeit‘, worauf sie basierte, revolutioniert – nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische Entwicklung, ob die Idee dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist – wie die Geschichte des Kommunismus dies beweist.“ (ebd., 38 f. – erste Hv. d. TaP; zweite Hv. i.O.)
Und auch wenn (falls!) eine ausreichende Masse von Individuen als revolutionäre Subjekte konstituiert werden, so sind doch die gesellschaftlichen Widersprüche der ‚Motor‘ (Lenin: „die Antriebsfeder“) dafür:
Der „Kampf der Klassen [… ist] die Antriebsfeder“ (LW 21, 47)2
„Anerkennung (Aufdeckung) widersprechender, einander ausschließender, gegensätzlicher Tendenzen in allen Erscheinungen und Vorgängen der Natur (darunter auch des Geistes und der Gesellschaft)“ = „Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer ‚Selbstbewegung‘“ (LW 38, 339 – Hv. i.O.)
„Entwicklung ist ‚Kampf‘ der Gegensätze.“ (ebd.)
‚Die Menschen‘ (genauer: Die strukturell wichtigen gesellschaftlichen Gruppen3 [classes und – so ist dann doch Marx und Lenin hinzuzufügen: – races and genders] machen die Geschichte ausschließlich „unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (MEW 8, 115 – Hv. d. TaP)
Oder in den Worten Althussers: There are „subjects (plural) in history, [… b]ut there is no Subject (singular) of history.“ (http://marx2mao.net/Other/ESC76i.html#s1c, p. 94; dt.: Bemerkungen zu einer Kategorie: „Prozeß ohne Subjekt und ohne Ende/Ziel“ [1972], in: Horst Arenz / Joachim Bischoff / Urs Jaeggi (Hg.), Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, VSA: Westberlin, 1973, 89 – 94 [89])
„Die wahren […] Subjekte sind daher weder die Stelleninhaber noch die Funktionäre, also – allem Anschein und jeder ‚Evidenz‘ des ‚Gegebenen‘ im Sinne einer naiven Anthropologie zum Trotz – eben nicht die ‚konkreten Individuen‘ und die ‚wirklichen Menschen‘: die wahren ‚Subjekte‘ sind die Bestimmung und Verteilung dieser Stellen und Funktionen. Die bestimmenden und verteilenden Faktoren, kurz: die Produktionsverhältnisse (und die politischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft) sind die wahren ‚Subjekte‘. Aber da es sich hierbei um ‚Verhältnisse‘ handelt, können sie in der Kategorie des Subjekts nicht gedacht werden.“ (Der Gegenstand des ‚Kapital‘ [1965/68], in: ders. / Etienne Balibar (Hg.), Das Kapital lesen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, 94 – 267 [242]; engl. Fassung im internet unter: http://www.marx2mao.com/Other/RC68ii.html, p. 180 – Hv. i.O.)
2. Warum heißt der „strukturale Marxismus“ „strukturaler“ Marxismus und nicht „strukturalistischer“ Marxismus? – Das ist mir auch nicht so ganz klar. – Ich vermute zum einen, um der Vulgär-Logik, wenn es Strukturalismus sei, können es nicht Marxismus sein, auszuweichen; und zum zweiten vielleicht auch aus etwas eitlem Distinktionsbedürfnis gegenüber den (anderen) StrukturalistInnen.
3. heißt der „strukturale Marxismus“ deshalb „strukturaler Marxismus“, weil Althusser – im Gegensatz zu dem, was er einerseits „lineares“ (= die Traditionslinie Kautsky-Hilferding-Stalin) und andererseits „expressives“ (= die Traditionslinie Lukàcs-Frankfurter Schule) Kausalitätsverständnis nannte – ein strukturales Kausalitätsverständnis entwickelte.
Ich erlaube mir ein Selbstzitat (aus: Die Norm (in) der Geschichte. Die Struktur des Strukturfunktionalismus und die Struktur des Strukturalismus, in: Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, Westfälisches Dampfboot: Münster, 2009, 206 – 254 [216 f., FN 27]):
Das strukturalistische Verständnis von Kausalität (oder Determinierung) ist also weder a) ein sog. lineares (oder mechanistisches) noch b) ein expressives Kausalitätsverständnis.
a) Ein lineares Kausalitätsverständnis kann nur Auswirkungen von gegebenen Teilen (z.B. eines ökonomischen ‚Zentrums’) auf andere gegebene Teile (z.B. auf ‚periphere’ Überbauten) denken. Es ist aber nicht in der Lage, die Auswirkungen des Ganzen auf die Teile zu denken; es ist nicht in der Lage zu denken, daß es gerade die Struktur ist, die die Teile determiniert, ja konstituiert; daß die Struktur den ‚Platz’, die ‚Rolle’, die ‚Identität’, den „Rang und Einfluß“ (Marx 1857a, 41 = b, 637) der Teile definiert; daß unterschiedliche Strukturen z.B. den Unterschied zwischen Lohn- und Fronarbeitern definieren (schaffen). Das (lineare oder) mechanistische Kausalitätsdenken nimmt im marxistischen Diskurs in der Regel die Form des Ökonomismus, ja Technizismus an: ‚Die Produktivkräfte sprengen die Produktionsverhältnisse.’ Die Klassen werden für etwas Gegebenes gehalten, die konstitutive Bedeutung des ‚Klassenkampfs’, der gesellschaftlichen Konflikte, der Produktionsverhältnisse, der Politik werden gegenüber der Bedeutung der Entwicklung der Produktivkräfte vernachlässigt. Vgl. dazu die Kritik von Lecourt 1976, 137 f. {engl.: p. 110}, FN 9; 1977, Abschnitt 1. und 3.).
b) Ein expressive Kausalitätsverständnis denkt zwar immerhin die Auswirkungen des Ganzen auf die Teile – aber es denkt sie als Anwesenheit eines einheitlichen Wesens in allen Teilen (pars totalis); es denkt die Teile als Ausdruck einer Totalität, aber nicht in ihrer Spezifität. Dieses Kausalitätsverständnis nimmt im Marxismus in der Regel die Form eines Diskurses über den „Warenfetischismus“, die „Entfremdung“, die „Verdinglichung“, das „falsche Bewußtsein“ etc. an. Insofern diese Richtung ideologische Phänomene (‚verdinglichtes Bewußtsein’) aus der Warenstruktur ‚ableitet’ (oder als deren ‚Ausdruck’ ansieht) ist sie im Ergebnis nicht weniger ökonomistisch als die erste.
Sollen diese theoretischen Konzepte mit politischen Linien in Verbindung gebracht werden, so ließe sich sagen, daß sich das lineare Kausalitätsverständnis sowohl in der klassischen Sozialdemokratie (Kautsky, Hilferding) als auch in der ‚realsozialistischen’ Theorieproduktion finden läßt. Das expressive Kausalitätsverständnis kann sowohl linksradikal-voluntaristische Politikkonzeptionen (Lukács, Marcuse) als auch einen intellektualistisch-resignativen Rückzug von der politischen Praxis (Horkheimer, Adorno) abstützen.
Das strukturale Kausalitätsverständnis denkt – im Gegensatz zum linearen – die Wirkungen des Ganzen auf die Teile, aber es denkt – im Gegensatz zum expressiven – das Ganze nicht als homogene Totalität, sondern als differentielle Verhältnisse und folglich die Teile nicht als bloßen Ausdruck des Ganzen (‚Totalität der Warenstruktur’), sondern in ihrer Spezifität (ihre spezifischen Formen, Mechanismen und Effekte), wodurch es in der Lage ist, realistischere Politikkonzeptionen zu unterstützen (Althusser 1965/68, 244-261, bes. 245, 247 unten, 250-254, 260; Kolkenbrock-Netz/Schöttler 1977/82, 142-145).
Literatur:
Althusser, Louis: Der Gegenstand des ‚Kapital‘ [1965/68], in: ders. / Etienne Balibar (Hg.), Das Kapital lesen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, 94 – 267 [242]; engl. Fassung im internet unter: http://www.marx2mao.com/Other/RC68ii.html
Kolkenbrock-Netz, Jutta / Peter Schöttler: Für eine marxistische Althusser-Rezeption in der BRD (1977), in: Klaus Thieme et al., Althusser zur Einführung (SOAK-Einführungen 9), SOAK Verlag: Hannover, 1982, 121 – 164 [um eine „Vorbemerkung 1982“ erweiterter Nachdruck aus: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Betr.: Althusser. Kontroversen über den Klassenkampf in der Theorie, Pahl-Rugenstein-Verlag: Köln, 1977, 43 ff.].
Lecourt, Dominique: Proletarische Wissenschaft? Der „Fall Lyssenko” und der Lyssenkismus (Reihe Positionen 1 hrsg. von Peter Schöttler), VSA: Westberin, 1976 (frz. Originalausgabe: Maspero, Paris, 1976; engl. Fassung im internet unter: http://www.marx2mao.com/Other/Proletarian%20Science.pdf).
ders.: Stalin. Enzyklopädische Notiz, in: Moderne Zeiten 12/1982, 49 – 52 (frz. Erstveröffentlichung in: Petite Encyclopédie Larousse, vol. Le Marxisme, Paris, 1977; danach wieder abgedruckt in: Dominique Lecourt, La philosophie sans feinte, Paris, 1982).
- „[…] der Strukturalismus [ist] von einem neuen Materialismus, einem neuen Atheismus, einem neuen Antihumanismus nicht zu trennen. Denn wenn der Platz den Vorrang hat vor dem, der ihn einnimmt, so genügt es gewiß nicht, den Menschen an den Platz Gottes zu stellen, um die Struktur zu ändern. […] Das wahre Subjekt ist die Struktur selbst: […] die differentiellen Verhältnisse.“ (Gilles Deleuze, Woran erkennt man Strukturalismus? (1967), in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie. Band VIII: Das XX. Jahrhundert, Ullstein: Frankfurt am Main / [West]berlin / Wien, 1975, 269 – 309 [277, 280 f.]) [zurück]
- Vgl. dazu die klassische These aus dem Kommunistischen Manifest: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, 462) und nicht eine Geschichte der „persönliche Gewalt“ (MEW 8, 559): „Ich weise […] nach, wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen.“ (ebd., 560 – Hv. i.O.). [zurück]
- „Marx zeigt, daß das, was eine Gesellschaftsformation in letzter Instanz determiniert und ihre Erkenntnis gibt, […] ein Verhältnis [ist], das Produktionsverhältnis, das mit der Basis, dem Unterbau zusammenfällt. Und gegen jeden humanistischen Idealismus zeigt Marx, daß dieses Verhältnis kein Verhältnis zwischen Menschen, kein Verhältnis zwischen Personen ist, […], sondern ein doppeltes Verhältnis: ein Verhältnis zwischen Menschengruppen in bezug auf das Verhältnis zwischen diesen Menschengruppen und Dingen, den Produktionsmitteln. Man unterliegt einer der größten Mystifikationen, wenn man glaubt, daß die gesellschaftliche Verhältnisse auf Verhältnisse zwischen Menschengruppen reduzierbar sei: denn es heißt zu unterstellen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse Verhältnisse zwischen Menschen sind, die nur Menschen betreffen, obwohl sie auch Dinge betreffen, die Produktionsmittel, die aus der materiellen Natur gewonnen werden. Das Produktionsverhältnis, sagt Marx, ist eine Aufteilungsverhältnis, es teilt die Menschen in Klassen auf, ebenso wie es gleichzeitig die Produktionsmittel einer Klasse zuteilt.“ (Louis Althusser, Ist es einfach, in der Philosophie Marxist zu sein? [1975], in: ders., Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, VSA: Hamburg/Westberlin, 51 – 88 [83] – Hv. i.O.) [zurück]
Siehe auch:
http://monoskop.org/Louis_Althusser
(Monoskop is a wiki for collaborative studies of the arts, media and humanities)