[Der folgende Text als .pdf-Datei.]
Ich wurde gefragt „gibt es eine Analyse von dir zu diesem Text? Wenn ja bitte link dazu.“ – Gab es zum Frage-Zeitpunkt nicht – aber nun gibt es (ich würde nicht gleich sagen: eine Analyse, aber zumindest) ein paar Anmerkungen:
1. Ich würde sagen, Achim Schill hat schon zielsicher die beste Passage aus dem Text herausgepickt.
„Das ist gerade in Bezug auf die Krisenpolitik ein Problem. Denn bei ihr geht es ‚nicht einmal vorrangig, um die Haushaltskonsolidierung, sondern vor allem um die sogenannten Strukturreformen zur Steigerung der «Wettbewerbsfähigkeit». Die Austeritätspolitik dient dazu, in der gesamten EU die Löhne zu senken, die Profitabilität zu erhöhen und die Position des deutschen und europäischen Kapitals in der Weltmarktkonkurrenz zu verbessern. Es ist eine entscheidende Schwäche der überwiegend keynesianisch argumentierenden deutschen Linken, dass sie aus einer an der effektiven Nachfrage orientierten Perspektive die Austeritätspolitik immer nur als irrational darstellt’ (Sablowski 2015). Schließlich helfen gegen diese politökonomische Bedingungskonstellation, die den Rahmen des politisch Möglichen auch für die Linke absehbar begrenzt, keine abstrakten Appelle – und das gilt auf supranationaler wie nationaler Ebene (vgl. Heinrich 2015). Deswegen lässt die »Alternative«, entweder zahnloser Reformismus in den Staatsapparaten und Kanälen der EU oder verbalradikaler Bruch mit ihr auf nationalstaatlicher Ebene, keine linke Wahl zu.“
2. Mitgehen würde ich auch noch mit diesem Satz,
„Die Niederlage der griechischen Regierung gegenüber der maßgeblich von der deutschen Regierung voran getriebenen Erpressungspolitik ist nicht irgendeine Niederlage irgendwelcher ausländischer GenossInnen, sondern eine Niederlage der europäischen Linken als Ganzes und damit nicht zuletzt auch unsere.“
und mit der Überschrift des Artikels: Wenn
- Plan A die Tsipras-Linie einer Einigung mit Troika/Quadriga
und
- Plan B ein nationalstaatlicher Linkskeynesianismus ist,
dann bedarf es in der Tat eines Plans (oder besser: einer Handlungsleitlinie) C.
3. Ich würde diese Linie C auf das Schlagwort von den „Vereinigen sozialistischen Staat von Europa“ bringen, und hatte sie – trotz meines Nicht-Überzeugtseins von Lenins Metapher vom „schwächsten Kettenglied“ – zusammen mit Achim Schill kürzlich so skizziert:
„Aufgrund der Ungleichzeitigkeit der ökonomischen Entwicklung in den EU-Ländern hat sich allerdings in den letzten Jahren (auch wenn es in den ersten zwei Jahrzenten der ‚Süderweiterung’ zunächst anders aussah) – ähnlich wie im Verhältnis von ‚Erster’ und ‚Dritter Welt’ – ein Verhältnis vom ‚Zentrum’ und ‚Peripherie’ entwickelt, das potentiell ‚revolutionäre’ Möglichkeiten (keineswegs schon: [vor]revolutionäre Situationen) beinhaltet.“
„Waren schon früher – bei weitaus geringerer ökonomischer Integration der EU und weitaus geringerer ‚Globalisierung’ – die Chancen einer nationalstaatlichen Durchsetzung von mehr als nur punktuellen Reformen äußerst gering, wie bspw. die Erfahrungen der südeuropäischen sozialistischen (Griechenland und Spanien) bzw. sozialistisch-‚kommunistischen’ (Frankreich) Regierungen der 1980er oder die Allende-Regierung in Chile Anfang der 1970er Jahre zeigen, so zeigt uns die heutige griechische Erfahrung, daß inzwischen zusätzlich die institutionalisierten Regeln und Mechanismen der Eurozone ein weiteres mächtiges Hindernis darstellen – und zwar nicht nur für deren Mitglieder, sondern vermutlich auch für deren etwaigen ehemaligen Mitglieder, die versuchen, eine größere Unabhängigkeit zu erlangen. Die Notwendigkeit der Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates schließt heute also die Notwendigkeit ein, die supranationalen Institutionen der EU und der Eurozone zu zerschlagen und durch Vereinigte sozialistische Staaten von Europa mit ganz anderen Institutionen, die auf ganz andere Weise arbeiten, zu ersetzen.“ (http://www.trend.infopartisan.net/trd0815/t400815.html)
Und als Verbindung zwischen beidem – in den Worten des RSB:
„Ganz ohne Zweifel wird auch eine breit mobilisierte griechische Bevölkerung den Weg zu einer anderen, nicht-kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht alleine zu Ende gehen können. Dazu braucht es im Verlauf des Kampfes die aktive politische Unterstützung aus anderen Teilen Europas und es braucht dazu einen größeren ökonomischen Zusammenhang als es dieses Land für sich alleine darstellt.“ (http://www.rsb4.de/content/view/5564/85/)
4. Von alledem kommt freilich in dem Plan C von Jan Schlemermeyer kaum bis gar nichts vor, wie auch dieser „Plan“ überhaupt ausgesprochen vage bleibt. Insofern schließe ich mich diversen Kommentaren auf der FB-Seite des ND an: „Unglaublich viele Worte“; „ich konnte den artikel nicht zuende lesen, aber deinen kommentar finde ich schön. besonders ‚kaputtschwafeln’“; „Ich hab nicht mal ´n richtigen Plan C erkennen können“).
5. So ist das ganze Gerede über die „gesellschaftliche Linke“ (6 x in dem Text), die pauschal bleibende Kritik an „der etatistischen Linken“ (meine Hv.) und das von Moritz Warnke übernommene Postulat,
„in Griechenland und Spanien war es gerade die Maulwurfsarbeit in den Platzbewegungen, in sozialen Zentren und Formen der selbsthilfeorientierten Organisierung, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse durcheinandergewirbelt haben“,
für mich begrifflich kaum faß- und daher kaum kritisierbar. Nur eines scheint mir doch aber klar zu sein: Wie wir gerade in Griechenland sehen, wurde das Kräfteverhältnisse alles andere als „durcheinandergewirbelt“ – weder durch PlatzbesetzerInnen noch durch wahlarithmetische Verschiebungen. „[D]urcheinandergewirbelt“ sind eher die Gedanken derjenigen, die jedes Bewegungslüftchen gleich als ‚das große Dinge’ abfeiern.
Insofern würde ich sagen: Auch den jetzigen Text des Blockupy-Activisten Jan Schlemermeyer trifft meine Blockupy-Kritik, die ich schon 2012 im Blog Lafontaines Linke formulierte; da es den Blog inzwischen nicht mehr gibt, habe ich den Text jetzt hier noch mal hochgeladen:
Kulturell zu eng und inhaltlich zu unbestimmt
Ergänzend kann noch herangezogen, werden
– was ich 2011 aus einem Flugblatt von Bolsevik Partizan und Trotz alledem! zum ‚Arabischen Frühling’ exzerpiert hatte:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/05/22/realismus-statt-revolutions-euphorie/
– was Santigo Lupe 2011 unter der Überschrift „Zwei Strategien für die Bewegung auf den Plätzen des Spanischen Staates“ schrieb:
http://www.klassegegenklasse.org/zwei-strategien-fur-die-bewegung-auf-den-platzen-des-spanischen-staates/
– was Daniel Bensaïd in den Sozialistischen Heften 4 und 6 zu Holloway sowie über das Verhältnis von Bewegung und politischer Formierung schrieb:
http://www.sozonline.de/soz-hefte/
6. Was speziell den Etatismus bzw. die „Fokussierung auf den Staat“ anbelangt, so ist es das Eine, zurecht die keynesianistischen nationalstaatlichen Illusionen zu kritisieren; etwas anderes ist es, zu meinen, es gäbe einen Weg raus aus dem Kapitalismus an der Frage der Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates vorbei.
Gegenüber der reinen Bewegungstümelei ist zwar von Vorteil, daß der Autor die „Machtfrage“ immerhin anspricht – aber daran, wie der Autor sie buchstabiert („Verhältnis zu neuen linken Parteienprojekt wie Syriza entwickel[n]“ / „bald wieder mit am Verhandlungstisch der Macht sitzen“), zeigt sich, daß ihm gar nicht bekannt zu sein scheint, was die Machtfrage ist.
7. Dichter an der Erkenntnis eines wirkliches Problems ist Jan Schlemermeyer, wenn wir den historischen Vergleich beiseite lassen, mit dem Satz:
„Er [der faktische Schulterschluss von IG Metall und IG BCE mit dem autoritären Wettbewerbsstaat] basiert darauf, dass die schrumpfenden Kernbelegschaften von Facharbeitern zwar äußerlich noch an das gute alte Proletariat der fordistischen Fabrik erinnern mögen, faktisch haben sie aber im Postfordismus eher die Funktion der Bauern während der französischen Revolution inne: Eine wichtige soziale Gruppe, der aber keineswegs per se eine fortschrittliche Rolle zu kommt.“
Das Problem ist freilich, daß Schlemermeyer im Gegenzug zu den Themen Lohnarbeit und Ausbeutung gar nichts zu sagen hat (jedenfalls kommen die Begriffe in seinem Text nicht vor; der Begriff „Klasse“ und vom ihm abgeleitete Begriffe im übrigen auch nicht – außer einmal „Klassenkampf“ im Literaturverzeichnis im Titel eines Textes, der im Artikel von Schlemermeyer kritisch erwähnt wird).
Zur Kritik des linksradikalen oder möchte-gern-linksradikalen ‚Freizeit-Antikapitalismus’, der die „eigene Proletarität“, die aber in Wirklichkeit auch bei den meisten post-fordistischen, post-modernen oder was-auch-immer Linken gegeben ist, ignoriert, siehe einen ziemlich neuen (und insgesamt lesenswerten) Text der Frankfurter Gruppe Antifa Kritik und Klassenkampf (ehemals: Campus Antifa), die zum antinationalen M 31-Spektrum gehört:
„linke Politgruppen [… richten] ihren Blick immer an sich selbst vorbei auf die Abschaffung des Kapitalismus. Der Mangel an Verankerung in Alltags- und Arbeitskämpfen macht sie zu wirkungslosen Erscheinungen. Das Selbstbewusstsein, mit dem moralische Appelle auf den alljährlichen Großevents vorgetragen werden, ist angesichts des fehlendes Einflusses auf die Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Herrschaft absurd.
Auch die linksradikalen Aktivist*innen stehen – daran muss man (sich selbst) scheinbar immer wieder erinnern – in einem materiellen Verhältnis zur Verwertung des Kapitals, sind selbst Ausgebeutete. Nur wenn ihre Kämpfe direkt in dieses Verhältnis eingreifen, haben sie Einfluss darauf und können so antikapitalistisch wirken. Die Geste des in der Masse der ihre Gegnerschaft zum Schweinesystem Beteuernden, sich in seiner Radikalität ebenso wie in seiner Moralität so wohlfühlenden gestreckten Mittel- bzw. Zeigefingers bleibt solange eine symbolische Feier der eigenen Ohnmacht, wie sie nicht innerhalb des eigenen Ausbeutungsverhältnisses stattfindet, die entsprechenden Kämpfe also nicht in die Reproduktion der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse eingreifen und somit im Bewusstsein der eigenen Proletarität geführt werden.“ (S. 7)
Ich selbst hatte an folgender Stelle etwas zum Verhältnis von – sagen wir mal abgekürzt – ‚fordistischer’ und ‚post-fordistischer Linken’ geschrieben (bzw. qua Selbstzitat wieder hervorgekramt):
http://www.nao-prozess.de/blog/welche-haltung-brauchen-wir-um-mit-post-autonomen-ins-gespraech-zu-kommen/
8. Zu dem Kipping/Riexinger-Ziat in dem Text:
„So, wie es ist, bleibt es nicht, nicht einmal in den Zentren des Neoliberalismus. Das aber markiert auch das endgültige Scheitern aller rot-grünen Vorstellungen von kosmetischen Veränderungen im Rahmen des Bestehenden. Demokratische Politik, die sich selbst ernst nimmt, muss heute auf eine Transformation der politischen und ökonomischen Formen zielen und eine Exit-Strategie aus dem Krisenkapitalismus entwickeln.“
möchte ich anmerken, daß diese Position bzw. der Ausdruck „Transformation“ weder Fisch noch Fleisch ist (VegetarierInnen und VeganerInnen mögen mir die Wahl der Metapher verzeihen). Realistisch erscheint mir vielmehr, daß auf reformerischen Wege in der Tat kaum mehr als „kosmetischen Veränderungen“ möglich sind, und, daß diejenigen, die es bei „kosmetischen Veränderungen“ nicht belassen wollen, sich um die Frage der Revolution nicht herumdrücken können.
Denn das Allerunrealistischste scheint mir zu sein, daß sich die kapitalistische Produktionsweise gradualistisch weg-reformieren läßt, ohne daß es die Angehörigen der kapitalistischen Klasse rechtzeitig merken, um noch Widerstand leisten zu können: „Ab dem Moment, wo linksparteilich-parlamentarische Reformen oder autonome Freiräume wirklich anfangen relevant zu werden, wird unweigerlich auch die Machtfrage auf den Tisch kommen.“ (Für Organisierung mit revolutionärer Perspektive!; vgl. dazu auch noch: Die ‚langen’ 90er Jahre beenden!)
9. Zu den drei Vorschlägen am Ende des Textes von Schlemermeyer:
„Dafür braucht es Gelegenheiten zur Verständigung (vielleicht bei einer Oxi-Konferenz im Herbst?) und Kristallisationspunkte zur Sichtbarkeit (vielleicht bei Blockupy am 1. Mai in Berlin?) sowie den Schritt raus aus der politischen Szene und hinein in die Gesellschaft (vielleicht mit einer europaweiten Kampagne für ein wildes Referendum?).“
Ich fange mal mit Vorschlag 2 an: Wenn am 1. Mai in Berlin mal wieder etwas anderes stattfinden würde als Befriedung (+ NAO-Selbstdarstellung), dann wäre das gut und nicht schlecht.
Zu Vorschlag 3: Dieser bezieht sich auf einen anderen ND-Text – und zwar auf einen Vorschlag, den Alban Werner kürzlich unterbreitete:
„In diesem ‚wilden’ Referendum erhalten alle EinwohnerInnen der EU zwei Entscheidungsalternativen: (1) Es soll weitergehen wie bisher mit dem sozial-ökonomischen Kurs innerhalb der EU, ohne zusätzliche demokratische Einwirkungsmöglichkeiten der BürgerInnen, oder (2) Es soll in der EU einen prinzipiellen Kurswechsel geben hin zu einem öko-sozialen ‚Marshallplan’ für Europa, der gute Arbeit für alle schafft, öffentliche Infrastrukturen ausbaut und schützt sowie ausgebaute demokratische Mitwirkungsrechte für die BürgerInnen sowie ein gestärktes europäisches Parlament vorsieht.“
Dazu hatte ich damals schon angemerkt: Wenn ich darüber abstimmen soll, „dann würde ich aber darauf wertlegen, über beide Punkte getrennt abstimmen zu dürfen: Zu Punkt (1.) mit ‚Nein’ und zu Punkt (2.) mit Enthaltung.“
Nichts gegen Reformen und meinetwegen auch ein „wildes Referendum“ – aber dann doch bitte nicht über vielfältig auslegbare Floskeln („gute Arbeit“, „,öko-sozialen ‚Marshallplan’“, ‚Ausbau’, ‚Stärkung’), sondern über konkret beschriebene Maßnahmen und Forderungen, die die Lebenslage der Ausgebeuteten und Beherrschten verbessern.
Und zu Vorschlag 1 („Oxi-Konferenz“): Eine solche Konferenz hat m.E. nur Wert, wenn sie nicht eine Aktionskonferenz für die Vorbereitung des nächsten Großevents wäre, sondern der Strategie-Diskussion dienen würde – mit vorab spektrenübergreifend abgesprochenen relevanten Themen (Fragen) und einem demokratischen Diskussionsverlauf statt ‚postmodernem’ Diskussionsmanagement im fraktionellen Interesse.
Ich würde schon nicht vorab vom Blockupy-Spektrum verlangen, einzusehen, daß am Leninismus eigentlich doch ziemlich viel dran ist; aber wenn eine solche Konferenz nicht aus der Einsicht geboren wäre, daß die Strategie ‚Bewegungsreformismus + breite, linke Parteien’ mit dem Scheitern von SYRIZA mindestens einer grundlegenden Überprüfung bedarf, dann wüßte ich nicht, welche gemeinsame Frage bei einer solchen Konferenz diskutiert werden sollte. – Und Diskussionen ohne gemeinsame Frage führen meistens nur zu einem wüsten aneinander Vorbeireden.
0 Antworten auf „Auf besonderen Leserwunsch – Anmerkungen zu Jan Schlemermeyer: Zeit für Plan C (ND, 23.08.2015)“