Ich hatte gestern Abend angekündigt, eventuell noch etwas zur Frage der Erfolgsaussichten von Revolutionen in peripheren Ländern zu schreiben. Dies soll hiermit geschehen. In dem neuen Griechenland-Text auf der Homepage der Revolutionär Sozialistischen Organisation (RSO) heißt es (wie schon gestern zitiert):
Alle tatsächlichen sozialen Revolutionen (Russland 1917, Jugoslawien 1945, China 1949, Kuba 1959-1962, Rojava seit 2012) fanden oder finden in der unterentwickelten Peripherie statt und alle Versuche revolutionärer Erhebungen in den kapitalistischen Zentren sind gescheitert.
Ja, so ist es! Aber eben das ist ja einer der Gründe dafür, warum aus Russland 1917, Jugoslawien 1945, China 1949 und Kuba 1959-1962 nicht mehr geworden ist, als tatsächlich draus geworden ist, und auch aus Rojava – solange sich die Dinge nicht grundlegend ändern lassen – nicht viel werden wird.
Und was folgt eigentlich nach der eigenen Ansicht der RSO aus der zitierten Beobachtung? Soll die Arbeit in den imperialistischen Metropolen bis auf weiteres auf die Unterstützung peripherer Revolution (+ vllt. trade-unionistischer Praxis hier) reduziert werden (vgl. Neoprene [letzter Abs.]: „einen guten Mantel für eine Politik der kleinen reformistischen Brötchen hierzulande abgibt“)? Wäre das marxistisch? Wäre das trotzkistisch? Entspräche das der bisherigen Praxis der RSO?
Aber um das theoretische Problem frontal anzugehen – und im folgenden die (vielleicht genre-bedingten; es sollte ja eine Polemik werden) Übertreibungen in dem RSO-Artikel von Carsten Bodo beiseite zu lassen – es war ja kein geringerer als Lenin, der sagte:
Die ganze Kunst des Politikers besteht eben darin, gerade jenes kleine Kettenglied herauszufinden und ganz fest zu packen, das ihm am wenigsten aus der Hand geschlagen werden kann, das im gegebenen Augenblick am wichtigsten ist, das dem Besitzer dieses Kettengliedes den Besitz der ganzen Kette am besten garantiert. (LW 5, 521 f.)
Dazu schrieb ich schon bei früherer Gelegenheit (ich habe jetzt leider nicht wiedergefunden, wo und was genau) in etwa:
Die Metapher sei schon auf der Ebene der Bildersprache (und nicht erst bei der Übertragung in die politische Praxis) verunglückt: Im besten Falle reiße die Kette an beiden Seiten des schwächsten Gliedes – und dann besitze die eine Seite das schwächste Glied und die andere weiterhin den ganzen großen Rest der Kette.
Oder aber die Kette reiße nur an einer Seite des schwächsten Gliedes. Dann besitze die eine Seite das kurze Ende der Kette und die andere Seite das lange Ende.
In beiden Fälle sei damit nicht viel gewonnen für die Seite, die das schwächste Glied in der Hand hat.
Zu ergänzen ist noch:
Der Imperialismus ist allerdings ohnehin keine Kette, sondern – wenn überhaupt – so etwas wie ein Netz! Weit davon entfernt, daß es gelungen wäre, die Städte von den Dörfern aus zu umzingeln, blieben und bleiben (bisher) die – kleineren oder auch größeren – sozialistischen gallischen Dörfer vom Imperialismus umzingelt. Da bricht keine Kette, sondern es erscheinen ein paar rote Tupfer auf der Landkarte – und ein schwarzes oder weißes (je nachdem, welche Farbmetapher wir für die konservativen Kräfte wählen wollen) Meer oder Gebirge drumherum.
Und das, was dann später tatsächlich passierte – nämlich, daß diese Tupfer über Jahrzehnte umzingelte blieben (auch, wenn nach 1945 der ‚Tupfer‘ Osteuropa + Sowjetunion + VR China – bis zur Spaltung des ‚real’sozialistischen Staaten-Zusammenhangs – ziemlich groß und bevölkerungsreich war), war ja auch in keiner Weise die Konzeption, mit der sich Lenin und Trotzki in der Oktoberrevolution engagierten:
Beide betonten vielmehr die Wichtigkeit eines Überspringens des revolutionären Prozesses auf Westeuropa: Lenin argumentierte für die Auffassung,
„daß wir einen vollen Sieg der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, d. h. die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft nicht fürchten dürfen […], denn ein solcher Sieg werde uns die Möglichkeit geben, Europa zur Erhebung zu bringen, und das sozialistische Proletariat Europas werde uns, nachdem es das Joch der Bourgeoisie abgeschüttelt habe, seinerseits helfen, die sozialistische Umwälzung zu vollbringen.“
(W. I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution [1905], in: ders., Werke. Bd. 9, 19571, 1 – 130 [71])
Und Trotzki schrieb:
„Ohne die direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat kann die russische Arbeiterklasse sich nicht an der Macht halten und ihre zeitweilige Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur umwandeln. Daran kann nicht einen Augenblick lang gezweifelt werden. Aber andererseits kann auch nicht daran gezweifelt werden, daß eine sozialistische Revolution im Westen es uns erlaubt, die zeitweilige Herrschaft der Arbeiterklasse unmittelbar und direkt in eine sozialistische Diktatur zu verwandeln.“
(http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/8-arbreg.htm – Hv. i.O.).
Nun waren ja aber – wenn auch schon damals nicht berauschend (u.a. angesichts der unterschiedlichen Geschichte und Programmatik der Sozialdemokratie in Rußland und Deutschland) -
- die Aussichten 1917 allemal besser, daß eine russische Revolution auf Deutschland – vielleicht auch Frankreich und einige kleinere Länder – überspringt,
- als daß eine etwaige griechische Revolution heute auf eines der starken EU-Länder überspringt.
Das heißt:
- Der Gestus, mit dem RevolutionärInnen in Deutschland mit Linken in Griechenland kommunizieren sollten, sollte nicht sein: „Seid doch mal bitte ein bißchen waghalsiger beim Handeln“,
- sondern: „So sehr wir auf Eurer/Euren Seite/Seiten stehen; mehr als minimale propagandistische und 0 machtpolitische Unterstützung können wir Euch leider nicht in Aussicht stellen. Falls wir Euch trotzdem einen Rat geben dürfen, so würde er lauten: ‚Wägt Eure Kräfte wohl.‘ – denn wir können kaum etwas in die Waagschale werfen.“
Um, nach alledem, meine Argumentation der letzten Tage zusammenzufassen, so würde ich sie in folgende Worte gießen:
- Das eine Problem an SYRIZA ist, daß sie in programmatischer Hinsicht bei weitem nicht ‚radikal genug‘; das sie nicht revolutionär ist und daß sie (folglich?) auch in organisatorisch-personeller Hinsicht in keiner Weise den Anforderungen an eine revolutionäre Partei gerecht wird – und auch nicht gerecht werden will.
- Das andere Problem ist aber, daß SYRIZA auf der Handlungsebene – angesichts ihrer geringen Macht schon viel zu weit gegangen ist:
Ich hatte vorgestern ja schon in einem anderen Artikel auf die französisch sozialistisch-“kommunistische“ Regierung von 1981-84 hingewiesen. Ein Argument bleibt dazu noch nachzutragen: Mitterrand kam damals bei dem 2. Präsidentschaftswahlgang auf eine absolute Mehrheit der abgegebenen – gültigen und ungültigen – Stimmen; selbst in Bezug auf die Wahlberechtigten kam er immerhin auf 43,2 %.1
Bei der anschließenden Parlamentswahl kamen PS und KPF in beiden Wahlgängen jeweils auf ungefähr 55 % der abgegebenen gültigen Stimmen; hinzugezählt werden könnten noch jeweils etwas mehr als 1 % für die Grünen und die äußerste Linke2 (Arlette Laguiller von Lutte Ouvrière hatte im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2,3 % der abgegebenen, gültigen Stimmen erhalten3, was auch mehr ist als die bisherigen Wahlergebnisse von ANTARSYA in Griechenland bei Parlaments- und Europawahlen4.)
In Griechenland kamen – abgesehen von den politischen Widersprüchen zwischen SYRIZA und KKE – im Jan. KKE, SYRIZA, ANTARSYA und einige andere andere linke Kleinparteien auf nicht einmal 44 % der abgegebenen, gültigen Stimmen. Nur zusammen mit der PASOK (die heute eine deutlich andere Formation ist, als die PS 1981 in Frankreich) und Papandreous PASOK-Abspaltung hätte es gerade mal für 50,3 % gereicht; in Bezug auf die Wahlberechtigten waren dies weniger als 32 %.5. (Und diese wahlarithmetische Schwäche von SYRIZA wird ja auch nicht dadurch ausgeglichen, daß sie auf betrieblicher Ebene stärker verankert wäre, als es damals die PS- und KPF-nahen Gewerkschaften in Frankreich waren, oder dadurch daß SYRIZA über einen militanten Arm verfügen würde.) – Regierungsfähig wurde SYRIZA überhaupt nur aufgrund der 50 Sitze-Bonus-Regelung für die stärkste Partei im griechischen Wahlrecht und das Bündnis mit der rechtspopulistischen ANEL… – wie sollte SYRIZA denn unter diesen Bedingungen (von dem globalen Kontext und der wirtschaftlichen Lage Griechenlands gar nicht erst zu reden) auch nur ihre linksreformistisch-keynesianistische Programmatik umsetzen, geschweige denn eine noch linkere Politik, als sie im SYRIZA-Programm steht, nicht nur propagieren, sondern machen?!
- https://en.wikipedia.org/wiki/French_presidential_election,_1981#Results – eigene Berechnung. [zurück]
- https://en.wikipedia.org/wiki/French_legislative_election,_1981 [zurück]
- Siehe FN 1. [zurück]
- https://en.wikipedia.org/wiki/Anticapitalist_Left_Cooperation_for_the_Overthrow#Hellenic_Parliament und https://en.wikipedia.org/wiki/Anticapitalist_Left_Cooperation_for_the_Overthrow#European_Parliament. [zurück]
- https://en.wikipedia.org/wiki/Greek_legislative_election,_2015#Results – eigene Berechnung. [zurück]
im anhang (FN 28) unseres gemeinsamen textes „was bleibt vom NAO prozess?“ über china kann man folgendes finden:
https://systemcrash.wordpress.com/2014/03/20/was-bleibt-vom-nao-prozess-als-fliesstext/
ja, das ist wirklich ein sehr schöner text. aber ich denke, du bohrst noch nicht tief genug. ich sehe es zwar auch so, dass ein “überspringen” einer möglichen “griechischen revolution” (von der wir weit weg sind) auf deutschland oder frankreich SEHR unwahrscheinlich ist (unwahrscheinlicher als das überspringen der russischen revoluion auf ganz westeuropa 1917 ff.), aber einen anderen (um)weg wird es NICHT GEBEN! ich teile zwar auch nicht die these von der gekauften “arbeiteraristokratie” (da stimme ich neoprene zu), aber tatsächlich scheinen auch grosse teile der “unterklassen” in den “zentren” kein grosses verlangen nach gesellschaftlicher transformation zu verspüren (was immer dafür die ursachen sein mögen). ohnehin entstehen revolutionäre situationen nur als reaktion auf krisenerscheinungen, also entweder massive wirtschaftliche verschlechterungen oder kriegssituationen; wobei die objektive lage nur den äusseren anreiz zum handeln darstellt, die strategischen konsequenzen erfordern eben eine analyse der gesellschaftlichen bedingungen, ein entsprechendes politisches programm und eine organisation entschlossener und bewusster menschen, die bereit sind ALLES (buchstäblich!) in die waagschale zu werfen. wenn diese faktoren NICHT vorhanden sind (und in griechenland und in jedem anderen land sind sie nicht [ausreichend] vorhanden), dann gibt es nur die möglichkeit, die krisensituation “auszusitzen” oder eine “rechte” entwicklung (bonapartismus, militärdiktatur, faschismus) wird wahrscheinlicher als eine “linke”. aber selbst eine solche katastrophe wäre nur eine weiterer “stolperstein”, der die nächste krisensituation vorbereitet. ich weiss nicht, ob die menschheit “unendlich” zeit zum lernen hat – aber eine andere möglichkeit/hoffnung bleibt uns ja wohl nicht. du schreibst ja selbst:
“Der Gestus, mit dem RevolutionärInnen in Deutschland mit Linken in Griechenland kommunizieren sollten, sollte nicht sein: „Seid doch mal bitte ein bißchen waghalsiger beim Handeln“ [als wir, anm. systemcrash],
sondern: „So sehr wir auf Eurer/Euren Seite/Seiten stehen; mehr als minimale propagandistische und 0 machtpolitische Unterstützung können wir Euch leider nicht in Aussicht stellen. Falls wir Euch trotzdem einen Rat geben dürfen, so würde er lauten: ‚Wägt Eure Kräfte wohl.‘ – denn wir können kaum etwas in die Waagschale werfen.“”
https://systemcrash.wordpress.com/2015/07/15/gegen-die-kapitulation-syrizas-und-seine-linken-apologeten/#comment-5400
Antwort:
https://systemcrash.wordpress.com/2015/07/15/gegen-die-kapitulation-syrizas-und-seine-linken-apologeten/#comment-5401