Ich dokumentiere im Folgenden zwei Texte, die im Nov. 1990 in der radikal Nr. 141, Teil I erschienen –
► zum einen: Schweizer Feministinnen, Ein Stein in der Sonne (S. 6 – 10) (= ein Brief an die Gefangene aus der RAF, Eva Haule, und die Gefangene aus dem antiimperialistischen Widerstand, Gisela Dutzi)
► und zum anderen: eine Stellungnahme von „Frauen aus der radikal“ dazu (S. 10 – 14).
Beide Texte wurde – unter leichten Kürzungen, die hier übernommen werden – 1994/95 in den beiden Auflagen der folgenden Broschüre nachgedruckt:
Broschürengruppe in Zusammenarbeit mit dem ASTA-FU sowie Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Wolf Dieter Narr, Uwe Wesel, Harald Wolf (Hg.)
Für eine neue revolutionäre Praxis. Triple oppression & bewaffneter Kampf.
Eine Dokumentation von antiimperialistischen, feministischen, kommunistischen Beiträgen zur Debatte über die Neubestimmung revolutionärer Politik 1986-1993
Selbstverlag: Berlin, 1. Aufl. 1994, 2. Aufl. 1995, 66 – 70 und 70 – 74.
Ein Stein in der Sonne
Feminismus ist der Klassenkampf von ganz unten gegen das ganze System
Liebe Eva und Gisel,
[…] Wir sagen Nein zum scheinbar so basisdemokratischen „alle gleichzeitig voran“, weil es immer auf die selbstmörderische Illusion hinausläuft, der Sieg über die ausgezeichnet vorbereiteten, feindlichen Kräfte könne ein spontaner Akt nicht-vorbereiteter Massen sein. Wir halten daran fest, daß ein Teil der Klasse (eine „Avant-Garde“!) den Kampf um die Macht in nicht-revolutionärer Periode vorbereiten muß, und daß der bewaffnete Kampf zugleich die wirksamste Form der politischen Propaganda in nicht-revolutionärer Periode ist. All diese Tatsachen werden nicht dadurch außer Kraft gesetzt, daß das der Situation angemessene, technologische Niveau heute in der Schweiz tief ist. Entscheidend ist das bewußte und gezielte Vorantreiben.
Nachdem Ihr nun aber so klar und offen zum Feminismus Stellung genommen habt, wollen wir als Feministinnen ebenso klar und offen Stellung nehmen. Wir müssen dazu etwas ausholen.
Das imperialistische Patriarchat und seine aktuellen Projekte
Das System – wir nennen es imperialistisches Patriarchat – beruht auf der Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen weltweit. Alle einzelnen Projekte sind Angriffe gegen Frauen, die neben und in geringerem Maß auch Männer treffen.
„im kampf der frauen wird ein zentraler nerv des herrschenden systems freigelegt“, schreibt Ihr. Wir meinen, da untertreibt Ihr maßlos: Frauen leisten konservativ geschätzt (durch die UNO) weltweit 2/3 der gesellschaftlichen Arbeit und bekommen dafür 1/10 der direkten oder indirekten Lohneinkommen. Dabei ist gesellschaftlich notwendige Arbeit wie Schwangerschaft, Geburt, Stillen, Verhütung, Abtreibung, emotionale und sexuelle Dienste noch nicht einmal mitgerechnet. Frauenarbeit ist der Nerv des Systems!
Ganz folgerichtig zielen die aktuellen Projekte des Kapitals gegen die Frauen. Diese sollen noch mehr arbeiten für noch weniger Einkommen.
[… es folgt eine Auflistung von damals „aktuellen Projekten“…]
Das Proletariat als Zwischenklasse
Das Kapital und sein Staat als oberste Organisatoren des Systems können ihre Projekte nur durchziehen, weil die durch das Kapital ausgebeuteten Proletariermänner zugleich als ausbeutende Klasse gegen die Frauen funktionieren: Die Frauen würden weltweit niemals zwei Drittel der weltweiten Arbeit leisten und sich mit einem Zehntel des Einkommens begnügen, wäre nicht die sexistische und sexistisch-rassistische Gewalt durch jeden Mann gegenwärtig – auch durch jeden Proletariermann. Wir rechnen deshalb die Klasse der Proletariermänner zu den Zwischenklassen.(1)
Frauen würden sich niemals unentlohnt in Haushalt, Kinderbetreuung und Diensten an den Männern abrackern, sie würden niemals all die unentlohnten und zum Teil ideologisch unsichtbar gemachten Dienste an Männern überall in der Gesellschaft leisten, müßte die Handvoll Unternehmerbosse selbst die Kontrolle garantieren. Der Handel mit Frauen aus Afrika, Asien, Süd- und Mittelamerika würde niemals rentieren, würde nur die Handvoll Unternehmerbosse Prostituierte, Gogo-Tänzerinnen oder Ehefrauen kaufen, Sexindustrie und Werbung würden niemals rentieren, würde nur die Handvoll Unternehmerbosse nach Zerstückelung, Folter und Mord an Frauen lechzen. Tatsächliche Mißhandlung, Vergewaltigung und Mord an Frauen wären niemals so massenhaft verbreitet, käme nur die Handvoll Unternehmerbosse als Täter in Frage.
Die Männer – auch die große Masse der ausgebeuteten Männer – haben die Verfügungsgewalt über die Frauen und deren Kinder durch alle Epochen des Patriarchats hindurch bis heute erfolgreich verteidigt. Erst diese Massenhaftigkeit der Gewalt garantiert die für die Ausbeutung notwendige Lückenlosigkeit. Verschiedene Feministinnen nennen das, was die Proletariermänner aus den Frauen ausbeuten und konsumieren „Arbeitsrente“. Diese senkt den Wert der Lohnarbeitskraft und steigert folglich den Mehrwert.
Frauen erfahren alltäglich, daß alle Männer objektive Klasseninteressen gegen die Frauen zu verteidigen haben und mit allen Mitteln verteidigen. Die feministische Klassenanalyse geht von diesem gesellschaftlichen Standort der ausgebeuteten Frauen aus.
Was von diesem Standort sofort sichtbar ist, bleibt vom Standort der Männer unsichtbar. Engels hat unfreiwillig einen Katalog der Gewalt- und Ausbeutungsformen geliefert, die in (seiner Ansicht nach) „klassenlosen Gesellschaften“ vorkommen: Frauenraub und -tausch („bloße Methoden, sich Frauen zu verschaffen“), sexuelle Monopolrechte von Männern über Frauen, „Rechte der Männer auf gelegentliche Untreue, grausame Strafen auf Untreue der Frauen“, „Belastung der Weiber mit übermäßiger Arbeit“, Eigentum des Mannes an den Produktionsmitteln („Brauch der damaligen Gesellschaft“) sowie Ausschluß der Frauen von Stammeseigentum und Mitsprache in Stammesangelegenheiten (2). All das gilt den Marxistlnnen bis heute als zwar moralisch verwerflich, aber nicht als klassenspaltend. Vergewaltiger und Vergewaltigte, Ausbeuter und Ausgebeutete sitzen demnach im gleichen proletarischen Boot! Moral ist keine ausreichende Grundlage für einen revolutionären Befreiungskampf.
Mit dem Aufschwung der neuen Frauenbewegung, und weil sie auf die Frauen als Aktivistinnenbasis angewiesen sind, haben sich einige marxistische Gruppen vordergründig angepaßt, ohne ihre Klassenanalyse und Politik zu ändern. In diesem Punkt können wir Eure Kritik voll unterschreiben: „und es ist auch trügerisch zu glauben, daß die linke hier dadurch revolutionär wird, daß nun ‚feministische ansätze’ verbal in den verschiedenen linken zusammenhängen präsent sind.“
Indem die unverändert marxistische Propaganda vom Proletariat als unterste Klasse durch Begriffe wie „Patriarchat“ oder „antipatriarchaler Kämpf“ ergänzt wird, ändert sich tatsächlich nichts, selbst bei zusätzlicher entglasung eines Sexladens alle paar Monate. Vielmehr entstehen Scheinharmonien und scheinbare Einverständnisse zwischen Marxismus und Feminismus. Diese blockieren die Herausbildung eigenständiger, marxistischer oder feministischer Identitäten und somit den Radikalisierungprozeß insgesamt.
Wenn – wie MarxistInnen behaupten – zwischen ausgebeuteten Frauen und Männern keine Klassenspaltung besteht, dann wäre autonome Bewegung und Organisierung von Frauen eine willkürliche Spaltung des objektiv einheitlichen revolutionären Subjekts. Das heißt: Autonomer Feminismus wäre kontrarevolutionär. Wenn wir auch die marxistische Klassenanalyse und diese ihre Konsequenzen ablehnen, so schätzen wir doch Eure Haltung: Ihr sprecht die unsägliche Konsequenz marxistischer Klassenanalyse fast offen aus.
Frauenkampf – und Feminismus – die politische Identität
Überall auf der Welt leisten Frauen Widerstand gegen charakteristische Merkmale weiblicher Existenz im Patriarchat: Armut und Elend, Obdachlosigkeit. Überausbeutung der Arbeitskraft, Zwangseingriffe in die Fruchtbarkeit, Verstümmelung der Sexualität, Kommerzialisierung des Körpers, Männergewalt und Staatsgewalt. Sie befinden sich dabei nicht auf einer Vorstufe des proletarischen Kampfes, sondern auf dem extremen Gegenpol zu Kapital und Staat: ganz unten, Feministischer Kampf ist Klassenkampf von ganz unten gegen das gesamte System.
Frauen kämpfen in Afrika gegen die Folter von CIitorisbeschneidung und Infibulation, in Indien gegen Brautmorde und Witwenverbrennungen, überall auf der Welt gegen Mißhandlungen, Vergewaltigung und Inzest, gegen die Zerstörung der Felder durch Agrogifte, gegen Betriebsschließungen, gegen Preiserhöhungen usw. Überall auf der Welt richten sich Frauenkämpfe gegen Kapital und Staat als oberste Organisatoren des Systems wie auch gegen die Zwischenklassen der Kleinbürgermänner, der Proletariermänner und der teilweise „hausfrauisierten“ Männer in ihrer ausbeutenden Funktion. Überall auf der Welt solidarischeren sich Frauen in ihren Kämpfen mit den Befreiungskämpfen der Männer in ihrer ausgebeuteten Funktion.
„Frau-Sein ist kein Programm“, hat Ingrid Strobl einmal geschrieben. „Frauenkampf“ ist auch keins, fügen wir bei. Solange wir uns allein aus individueller oder Szenen-Herkunft („von uns ausgehend“), partiellen Forderungen und nicht näher bestimmtem Revolutionsziel definieren, können all unsere Kämpfe durch klassenfremde Interessen instrumentalisiert werden. Frauenbefreiung wird dann illusorisch. Als Frauen, die für eine umfassende Befreiung kämpfen, brauchen wir ein kollektives Bewußtsein über das gesellschaftliche Wohin und Wie unseres Kampfes, Wir müssen:
-- von ganz unten bis ganz oben durchschauen wie das System konstruiert ist und wie verschiedenen Ebenen zusammenspielen,
-- die Aufgaben und den Charakter der zu erobernden Macht bestimmen, so daß Befreiung bis ganz unten möglich wird,
-- aus eigenen und fremden Kämpfen Schlüsse ziehen und die so entstehende, revolutionäre Theorie als Leitfaden für die Weiterentwicklung der Kämpfe nutzen.
Da und dort haben kämpfende Frauen diese revolutionäre Theorie und Praxis von ganz unten „Feminismus“ genannt. Wie immer sie genannt wird, das Zusammenkommen der Kämpfe und die fortlaufende Systematisierung der Erfahrungen zum immer neu überprüften Leitfaden steckt noch weit in den Anfängen. Feminismus ist deshalb noch lange keine inhaltlich präzis definierte, internationale und internationalistische Bewegung. Das hat verschiedene Gründe. Erstens ist es naheliegend, daß die historisch am tiefsten verwurzelten Ausbeutungsverhältnisse die längste Ausgrabungszeit erfordern. 2. kann es in den Anfängen des bewußten Kampfes noch nicht klar sein, in welchen Formen und mit welchen Mitteln Ethnozentrismus und Rassismus zwischen ausgebeuteten Frauen verschiedener Hautfarbe, Herkunft (Trikont/Metropole), Geschlechterorientierung (Lesbe/Hetera) usw. aufzuheben sind. Die feministische Methode – autonome Identität und Aktionsbündnisse – beginnt sich hier erst abzuzeichnen. 3. ist die Theoriearbeit wegen der extremen Ausbeutung der untersten Klasse auf Ausnahmefrauen angewiesen: Frauen, die ihre Last an entfremdeter Arbeit in etwa auf das von Proletariermännern geleistete Maß reduzieren können. Es ist ein weiteres, zu bearbeitendes Problem, daß diese Ausnahmen in der Metropole häufiger sind als im Trikont.
Wie jeder revolutionäre Kampf muß der feministische in offenen und verdeckten oder ausschließlich verdeckten Formen geführt werden, je nach Situation. Aber revolutionär-feministischer Kampf muß sich gegen zwei Klassen und ihre Repression decken: Frauen müssen sich unter Umständen unter dem Vorwand traditionell weiblicher Arbeiten zu Sitzungen treffen, sie müssen in ihren Frauenorganisationen Alibimänner mitorganisieren und vieles andere mehr, um von den Männern ihrer Familie nicht als ihrer Klasse bewußte Frauen, das heißt Feministinnen erkannt zu werden: das kann lebensgefährlich sein.
Wo immer ein Befreiungskampf Formen und Begriffe annimmt, macht sich die Instrumentalisierung des Kampfes für klassenfremde Interessen an diesen Formen und Begriffen fest. So wie es einen reformistischen „Sozialismus“ und einen revisionistischen „Kommunismus’ gibt, so gibt es einen reformistischen „Feminismus“ und einen marxistisch-leninistischen „Frauenkampf“. Das (unvermeidliche) Anfügen von klärenden Eigenschaftswörtern verhindert nicht den neuerlichen Mißbrauch. Denn die Ursache liegt in den Kräfteverhältnissen.
Proletarische Macht und feministische Macht
Die Eroberung der proletarischen Macht erlaubt die Beseitigung der Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse von der Zwischenklasse der Proletariermänner an aufwärts. Die Eroberung der feministischen Macht erlaubt die Beseitigung der Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse von der untersten Klasse an aufwärts. Kurz: alle.
„bei der feststellung, daß nirgends eine revolution die befreiung der frau gebracht hat, stellt sich sofort die frage. für wen hat sie sie gebracht.“
Das ist nicht unsere Frage. Sondern: Erlaubt der Charakter der eroberten Macht, in einem zweifellos längerdauernden Prozeß sämtliche Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse zu beseitigen? Die proletarische Macht kann auf Grund ihres Geschlechtscharakters nicht mehr als frauenfreundliche Reformen zugestehen bis die (auch in der proletarischen Revolution unverzichtbare) Mobilisierung der Frauen gebrochen ist, die objektiv in diesem Moment zur weitergehenden, feministischen Macht tendieren muß. Die proletarische Macht kann nicht anders, als in diesem Moment die Reformen zurückzunehmen: Es liegt nicht im objektiven Interesse des Proletariermannes, 50% statt wie bisher 33% der gesellschaftlichen Arbeit zu leisten und dafür 50% statt wie bisher 90% der direkten oder indirekten Lohneinkommen zu beziehen. Da geht’s nicht mehr um die schönen und tiefen Beziehungen, sondern um knallharte, materielle Interessen. An diesen Akten der Blockierung des Befreiungsprozesses – Reform und Rücknahme der Reform – kann die proletarische Macht nicht anders als zu Grunde gehen. Dies schafft die Voraussetzungen, in denen eine neue Ausbeuterklasse über Frauen und Männer die Macht erobern kann. In der bisherigen Geschichte war das eine Bürokratie, die auf Einheitspartei, staatlichem Repressionsapparat und staatlichem Monopol über die materiellen Reproduktionsmittel und über die Fruchtbarkeit beruht. Die Bürokratie tendiert dazu, das kapitalistische Patriarchat wiederherzustellen.
Um mit einem bekannten, wenn auch patriarchal motivierten Bild zu sprechen: Es ist realistisch, ein Ei an die Sonne zu legen und zu sagen: Es wird möglicherweise lange dauern, aber schlußendlich kann ein Küken ausschlüpfen. (Echt? die verblüffte S’in. Mao lesen [Ausgewählte Werke, Bd. I, 369], sagen die Hg.). Eine revolutionäre Politik wird nicht dadurch falsch, daß es lange dauert. Die Eroberung der proletarischen Macht als Weg zur Befreiung der Frau zu propagieren bedeutet einen Stein an die Sonne zu legen und das Ausschlüpfen eines Kükens anzukündigen. Revolutionärer Feminismus setzt die Eroberung der feministischen Macht als Ziel. Das kann zwar auch lange dauern – aber immerhin ist es ein Ei und nicht Stein in der Sonne.
Aber warum denn heute schon so weit denken? mögen nicht wenige sagen. (Ihr in Bezug auf Euren Kampf nicht, das wissen wir gewiß). Warum nicht zuerst Männer und Frauen gemeinsam für die proletarische Revolution und in der Etappe danach irgendein unbekanntes Subjekt für die feministische? Das Patriarchat hat sich von der einfachen Klassenspaltung zwischen den Geschlechtern als historisch erster Klassenspaltung in mehreren Tausend Jahren und über viele verschiedene Formen zu seiner hochkomplexen kapitalistischen Form entwickelt. Im kapitalistischen Patriarchat treffen Gewalt und Ausbeutung in reduzierter Form auch die große Masse der Männer. Diese Langzeitfolgen des patriarchalen Unterwerfungsaktes können die Proletariermänner nicht mehr allein zerschlagen. Darum kommen ihnen plötzlich die Frauen in den Sinn. Darin liegt für uns Frauen nicht nur die Gefahr der Unterwerfung unter männerorientierte, revolutionäre Führungen, sondern auch eine historische Chance, zugleich den ursprünglichen patriarchalen Unterwerfungsakt aufzuheben. Möglich ist dies nur mit autonom-feministischer, revolutionärer Führung.
Die Notwendigkeit feministischer Autonomie
Revolutionär-feministischer Kampf muß in jedem Moment fähig sein, den revolutionären Prozeß auch bei reaktionär-motivierten Rückziehern des revolutionär-proletarisch oder -kleinbürgerlichen Kampfes weiterzutreiben. Revolutionär-feministischer Kampf muß aus diesem und keinem anderem Grund autonom sein, das heißt unabhängig gegen Staat und Zwischenklassen. Der Gradmesser feministischer Autonomie ist der jeweils erreichte Stand dieser notwendigen Fähigkeit. Die formal-organisatorischen Mittel sind wichtige, aber weder einzige noch ausreichende Mittel, um die reale Autonomie herauszubilden.
Ein Beispiel: Vor der Revolution der Nationalen Befreiung von 1979 in Nicaragua war die Frauenorganisation AMPRONAC formell autonom, theoretisierte ihre Autonomie aber nicht als politische Notwendigkeit. Während der Revolution unterstellte sie sich im Glauben an ein geschlechtsneutrales „Allgemeininteresse“ der Führung der Frente Sandinista. Sie organisierte die Massenbasis der Revolution, garantierte Versorgung, Unterschlupf, Meldedienste, Pflege der Verwundeten und ähnliches. Ein Teil der Frauen kämpfte bewaffnet in der geschlechtlich-gemischten Guerilla. Als dann nach der Revolution die Frauen vom Waffendienst in den sandinistischen Streitkräften ausgeschlossen wurden, protestierten Guerillas gegen die Verweigerung des elementaren Rechts, bewaffnet für die Befreiung zu kämpfen.
Der Frente hatte unter dem Deckmantel eines dringlichen und angeblich geschlechtsneutralen „Allgemeininteresses“ die Männermacht stabilisiert. Das weitere ergab sich dann von selbst. Der Frente stoppte die Land- und Betriebsbesetzungen und garantiere das kapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln. Mit der Agrarreform – Kernstück der Revolution – schaffte er eine neue Zwischenklasse von Landeigentümern und Familienoberhäuptern. Ganz folgerichtig gingen 92% der Landtitel der Agrarreform an Männer, 8% an die Frauen. Ebenso folgerichtig konnte das sandinistische Alimentengesetz die Schwängerer nicht zu Versorgungsleistungen an kleine Kinder zwingen, garantierte ihnen aber den Zugriff auf eheliche und uneheliche Kinder im arbeitsfähigen Alter (mehrwertproduzierende Arbeitskräfte!). Ebenso folgerichtig war die Opposition gegen die Lockerung des somozistischen Abtreibungsgesetzes, das dem Schwängerer ein Veto-Recht erteilt, auch in den sandinistischen Reihen enorm.
Die wichtigsten ausbeutbaren Arbeitskräfte der sandinistischen Agrarreform blieben die Frauen: ohne Eigentum an Produktionsmitteln und ausgeschlossen von der Mitgliedschaft aus den Kooperativen. Frauen hatten weiterhin 18 Stunden pro Tag zu arbeiten, Männer neun. Illegale Abtreibung war weiterhin die häufigste Todesursache von Frauen im gebährfähigen Alter. Die frisch bestätigten Familienoberhäupter beanspruchten gegen alle aufklärerische Propaganda ihr Eigentumsrecht, „ihre“ Frauen zu schlagen und zu vergewaltigen.
Wir betonen nochmals: Es geht uns nicht darum, Befreiungsleistungen zu zählen wie Erbsen. Eine Revolution der Nationalen Befreiung ist keine Beseitigung des Kapitalismus und ein Trikontland ist kein reiches Land. Mit dem Beispiel Nicaragua wollen wir deutlich machen, daß die separate Organisierung der Frauen nicht genügt, um die Stabilisierung der Männermacht zu verhindern. Entscheidend ist die feministische Autonomie. Die Mehrfachbelastung der Frauen, die Verfügung über Fruchtbarkeit und Kinder und die Männergewalt anzugreifen hätten bedeutet, das weiterbestehende, kapitalistische Patriarchat im Landesinnern an der Wurzel anzugreifen. Autonomer Feminismus hätte zwangsläufig eine Alternative darstellen müssen zum sandinistischen Projekt der Aussöhnung der Zwischenklassen mit dem privaten oder genossenschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln und dem kapitalistischen Markt.
Feministische Autonomie beruht auf der Erfahrung und dem Bewußtsein, daß es in einer patriarchalen Gesellschaft nichts geschlechtsneutrales gibt. Jede noch so geschlechtsneutral erscheinende Kategorie von Gewalt und Ausbeutung nimmt gegen Frauen die volle Form an, gegen Männer eine reduzierte. Darüber hinaus gibt es Kategorien, die fast oder ganz ausschließlich Frauen treffen: Ausbeutung von Sexualität und Fruchtbarkeit. Die nicht-vollzähligen und reduzierten Formen lassen sich nur von den vollzähligen und vollen Formen her mit der Wurzel vernichten. Die geschlechtlich-gemischte, das heißt männer-orientierte Bewegung geht umgekehrt vor: Sie richtet den Kampf gegen die reduzierte Form und ergänzt bisweilen verbal, was bis zur vollen Form fehlt. Das ergänzte nennt sie „Frauenfrage“.
Enteignung von den Subsistenzgrundlagen, Hunger, Vertreibung und Obdachlosigkeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, (Erwerbs-)Arbeitslosigkeit, Folter usw. haben allesamt eine volle weibliche und eine reduzierte männliche Form. Am Beispiel der Aufstandsbekämpfung möchten wir kurz den Blick auf eine volle Form lenken. Sie setzt gegen Frauen auf extrem tiefer Stufe des Widerstands ein: individueller Eigensinn kann genügen. Frauen können körperlichen Strafen bis zur Todesstrafe unterworfen werden, wenn sie sich „frei“ in privaten und öffentlichen Räumen bewegen, in denen gleichzeitig Männer sind. Als Agentlnnen der Aufstandsbekämpfung treten nicht nur die staatlichen auf, sondern auch Einzelmänner, Männerbanden und die Psychiatrie (Frauen werden bekanntlich wegen geringstfügigen „Abweichungen“ von der Norm psychiatrisiert). Gegen widerstand-leistende Frauen darf jeder Mann als knüppelnder Polizist auftreten, nicht allein Faschobanden und die eigentliche Polizei, usw.
Die Einbindung des Frauenkampfes in ein angebliches „Allgemeininteresse“ hat deshalb immer eine doppelt negative Wirkung:
-- Der Frauenkampf wird auf sogenannte „Frauenfragen“ reduziert (Sex, Kinder haben, Internationale Frauentage und so).
-- Das Befreiungsziel wird auf diejenigen Ausbeutungsformen reduziert, die auch Männer treffen. Ausgebeutete Frauen müssen für ihre Befreiung den zentralen Repressions- und Ideologieapparat (Staat) zerschlagen, das Privateigentum an den materiellen Produktionsmitteln aufheben, den dezentralen Repressions- und Ideologieapparat (Machos und Männerbanden) zerschlagen, das Privateigentum von Männern an Frauen und Kindern aufheben und sich selbst aus der Stellung des Menschen-Produktionsmittels und Sexualobjektes befreien. Ausgebeutete Männer müssen für ihre Befreiung „nur“ den Staat zerschlagen und das Privateigentum an den materiellen Produktionsmitteln aufheben.
Kritische Solidarität mit Revolutionen der nationalen Befreiung
Bezüglich der nationalen und/oder antikapitalistischen Befreiungsbewegungen und bezüglich national und/oder vom Kapitalismus befreiten Länder sind internationalistische Feministinnen in den Metropolen solidarisch mit den Klassen ganz unten und ihrem nationalen wie auch gegen das kapitalistische Patriarchat gerichtete Befreiungsinteresse: den Frauen. Frauen aus diesen Ländern haben in den letzten 10 Jahren ihre Kritik an diesen nach wie vor patriarchalen Bewegungen und Systemen zum Ausdruck gebracht. Als Feministinnen würden wir aber auch dann Stellung nehmen, wenn die patriarchale Gewalt und Ausbeutung in nichts als sprachlosem Elend ausdrückte: Wir teilen nicht die Ideologie der Herrschenden, wonach die der Sprache beraubten glücklich wären.
„wir kennen die Kritik vieler Frauen an den Befreiungsbewegungen und national befreiten Ländern im Süden, weil in ihnen die Unterdrückung der Frau nicht oder ihren eigenen Vorstellungen entsprechend beseitigt wird,“ schreibt ihr.
Im Sommer 1980 fand in Den Haag ein workshop statt. Die dortigen, kritischen Situationsbeschreibungen durch Frauen aus Vietnam, Kuba, Nicaragua, Zimbabwe, China, Jugoslawien sowie Indien und Südafrika wurden durch internationalistische Feministinnen auch in der Metropole aufgenommen und haben viele Diskussionen ausgelöst. Die gemischte Linke, einschließlich marxistisch-leninistische Gruppen, haben diese Frauen aus Afrika, Asien Süd- und Mittelamerika in aller Regel totgeschwiegen oder als ausländisch-gesteuerte Marionetten diffamiert (3).
„Täglich sehen wir, daß die Lebenspraxis der Frauen dieses Volkes eine Reihe von Glaubensvorstellungen widerlegt, welche die patriarchale Ideologie uns aufgezwungen hat“, schreibt die nicaraguanische Feministin Aida Redondo nach ausgedehnten Gesprächen mit Marktfrauen von Managua. Als eine dieser Glaubensvorstellungen nennt sie jene, „daß der Feminismus eine charakterisch-ausländische Bewegung sei… Wenn jene Frauen Feministinnen sind, welche die patriarchale Ausbeutung und Unterdrückung durchschauen, dann ist die Mehrheit der Marktfrauen und der Frauen des nicaraguanischen Volkes Feministinnen.“ Tatsächlich drückt sich in den Zitaten der Marktfrauen der Klassenhaß gegen beide Bosse aus: den kapitalistischen und den proletarischen (4). Beide machen das „Gefängnis“ aus, wie Ihr es nennt. Nichts weniger als das kann im Interesse der Frauen im Trikont liegen, und in nichts weniger als diesem sind wir solidarisch mit ihnen.
Antipatriarchaler Kampf (der Männer) und feministischer Kampf (der Frauen)
Aus jeder ausbeutenden Klasse können einzelne individuell austreten. So können auch einzelne Mitglieder der Zwischenklassen Proletarier, Kleinbürger – erste Schritte Richtung Verzicht auf Gewalt und Ausbeutung gegen Frauen machen. Aber niemals wird sich eine ganze Klasse durch Einzelaustritte aus ihrer ausbeutenden Rolle löse.
„die männer in der RAF wären nicht da, wenn sie die gesellschaftlichen und ihre eigenen patriarchalen strukturen nicht als deformierungen ihres eigenen mensch-seins, als ihre eigene zerstörung erkannt und damit gebrochen hätten“, schreibt Ihr als Entgegnung auf einen Satz im 8. März-Flugi der Frauendemo, daß „Männer niemals ihre Privilegien freiwillig aufgeben“. Zweifellos können Mitglieder ausbeutender Klassen aus revolutionärer Überzeugung oder aus anderen Motiven individuell aus ihrer Klasse austreten (die Hoffnung eines jeden Autonomen… d. s’erinnen). Ein Fabrikherr kann seine Fabrik den ArbeiterInnen verschenken und selbst Arbeiter werden. Ein Proletariermann kann anfangen, auf die brutalsten Formen der Gewalt und Ausbeutung gegen Frauen zu verzichten und für die subtileren Formen ansatzweise ein Bewußtsein zu entwickeln. Doch was ändert der Austritt des einzelnen Fabrikherrn an der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Bourgeoisie als Klasse, die eben nicht freiwillig austritt? Was ändern die tastenden Schritte des einzelnen Proletariermannes (tapps, tapps, d. s’in) hinaus aus mehrtausendjähriger Geschlechterspaltung an der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Massen der Vergewaltiger und Machos als Klasse, die eben nicht freiwillig austritt? Die Illusion, daß sich irgend eine Klasse durch freiwilligen Austritt ihrer Mitglieder auflösen könnte, entspricht einem längst überwundenen, utopischen Sozialismus.
Wenn Ihr über die Menschlichkeit der Beziehungen in der RAF schreibt, geht das am Feminismus vorbei: Er zielt nicht auf die Umwälzung des gemischten revolutionären Widerstands, sondern des Systems insgesamt.
Zweifellos können sich Proletariermänner in Männergruppen, um ihre tastenden Schritte gemeinsam zu tun und einen anti-patriarchalen Kampf (den Kampf vom Männer-Standort) zu entwickeln versuchen. Sie müssen es sogar. Die historische Chance besteht darin, daß sich im Sturz des kapitalistischen Patriarchats nicht mehr einfach Frauen und Männer, 50% und 50% der Gesellschaft gegenüberstehen brauchen. Ob die Chance genutzt wird, ob Teile der Zwischenklassen (Proletariat und Kleinbürgertum) in einen anti-patriarchalen Kampf gezogen und andere neutralisiert werden können, hängt ganz und gar von der autonomen Kraft eines revolutionären Feminismus ab. Diese Kraft beruht absolut nicht auf verbaler Emanzipationshilfe, aber ganz und gar auf dem bewaffneten Kampf gegen Kapital, Staat und resistenten patriarchalen Teilen der Zwischenklassen. Das fortgeschrittenste, uns bekannte Beispiel in dieser Richtung sind die bewaffneten Gruppen schwarzer Frauen in Südafrika, die Vergewaltiger liquidieren.
Revolutionärer Feminismus ist die Methode, restlos alle Klassenspaltungen in der Gesellschaft zu beseitigen. Dies muß ansatzweise bereits im Verlauf des revolutionären Prozesses gelingen, um die für den Erfolg unerläßliche Zentralisierung der Kräfte zu erreichen. Die feministische Zentralisierung auf Grund von Autonomie und Aktionsbündnissen wird sich gegen die leninistische der Unterordnung unter Männerinteressen durchsetzen müssen.
‚radikaler bruch’ und befreite Beziehungen
Ihr benennt die Voraussetzung befreiter, menschlicher Beziehungen klar und deutlich: „der radikale bruch mit dem systemalltag“. Aus Eurem Mund heißt das: Bewaffneter Kampf mit all seinen Konsequenzen. Abseits vom radikalen Bruch, abseits vom kontinuierlichen und bewußt vorantreibenden Kampf (dessen technologische Mittel wir heute in der Schweiz tiefer ansetzen müssen als Ihr in der BRD), gibt es nichts als den öden Kreislauf links-alternativer Reproduktion der Arbeitskraft.
Das leuchtet sofort ein, daß auf der Grundlage des radikalen Bruchs (in Eurem und keinem andern Sinn!) „die elende trennung … des lebens von der politik und diskussion … aufgehoben wird.“, daß dann Politik zu etwas anderem wird als „ansichtssachen und hier und da mal eine initiative“, daß dann „befreiung in den beziehungen der menschen … materiell wird“. Der gemeinsame radikale Bruch und die sich dann erschließende revolutionäre Politik bedeutet ohne Zweifel die tiefste aller Beziehungen.
Und doch fällt auf, wie leicht diese Eure Sätze für die Verklärung von linksalternativer Politik und Szeneleben ganz ohne radikalen Bruch verwendbar sind. Ob es an der Häufung von Ausdrücken wie „Mensch“, „Menschlichkeit“, „Selbstbewußtsein“ usw. liegt, die so sehr das freischwebende Philosophieren anregen? Werden diese Eure Sätze abseits vom radikalen Bruch verwendet, so sind sie reformistisch, sexistisch und rassistisch zugleich: Sie verschleiern sämtliche Klassenspaltungen und reduzieren das Klassenbewußtsein auf das ärmliche „Selbstbewußtsein“. Aus Eurem Munde, das heißt glaubwürdig bezogen auf revolutionär kämpfende Zusammenhänge, haben sie eine andere Bedeutung. Aber auch an dieser haben wir unsere Zweifel: Wir glauben nicht daran, daß die Wunden, die Narben und die Deformation aus so viel Tausend Jahren Patriarchat so schnell verheilen.
Für Euren radikalen Bruch, für Eure Kämpfe, für Euer Dran-Bleiben am Kampf, für Entschiedenheit in allen Konsequenzen haben wir für Euch die tiefste und leidenschaftlichste Solidarität.
(kommt uns’n bißchen wie Bewunderung vor!? d. s’in)
20.6.1990
Anmerkungen:
(1) Zu den Zwischenklassen gehört auch jene Kleinbürgermänner. Sie beuten nicht bloß die eigene Arbeitskraft aus, wie Marx behauptete, sondern in der Regel jene von Ehefrau und Kindern.
(2) Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates sowie Anti-Dühring. In Klammern jeweils die Kommentare von Engels.
(4) Die Länderberichte hat Maria Mies protokolliert: siehe „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“ 8/1983
(5) Aida Redende Lubo, las vendedoras de los mercados, Managua, 1987
Anm. d. Hg.:
Wir haben die im Original unterstrichenen Passagen fett gesetzt; die innerhalb der unterstrichenen Passagen im Original fett gesetzten Stellen haben wir hier kursiv hervorgehoben.
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