Offizielle Veranstaltungsankündigung mit nachfolgenden Anmerkungen von mir sowie einem Veranstaltungsbericht als Kommentar:
Donnerstag 5. Mai 2011 im Audimax der ASH Berlin; “Queer-Globalization”
Queer-Globalization
Zum Thema sprechen und diskutieren María do Mar Castro Varela und Jennifer Petzen.
Moderation: Koray Yilmaz-Günay
Eine bilinguale Veranstaltung: Deutsch-Englisch.
María do Mar Castro Varela
Imperiales Begehren und das Versprechen transnationaler Bündnisse„… who is made to remain silent within his local economy in order to be appropriately consumed“ (M. Jacqui Alexander)
Wie könnte eine queere globalkritische Intervention aussehen? Und was tun mit der Notwendigkeit transnationaler queerer Bündnisse und ihrer scheinbaren Unmöglichkeit? Der Input wird sich mit der Frage einer queeren Globalisierung auseinandersetzen, die sowohl im Sinne eines imperialen Begehrens als auch einer möglichen Widerstandsstrategie gegen national-staatliche Vereinnahmung der LGBTIQ Community gedacht werden kann. Aufgezeigt werden die Spannungen und Widersprüche, die sich aus dieser Gleichzeitigkeit ergeben.Jennifer Petzen
Queer (Racist) Trouble: Berlin is BurningIn my part of the talk I would like to address some recent developments in queer transnational activism, where the collective labor of queers of color and their allies over the last ten years have been particularly important in critiquing the politics of European gay and lesbian (1) organizations with lobbying and/or broad representative claims. This critique does not only include the reactionary tendencies in mainstream LGBT politics against which Butler was protesting but also focuses on more white-dominated progressive groups that seem unable to successfully engage with anti -racist and queer and trans of color critiques.
(1) I use the term “gay and lesbian” as a way to describe a single-issue sexual emancipatory politics, whether progressive or other, and which is also based on a modernist conception of homosexual identity. Often organizations that claim to represent LGBT persons are dominated by middle class gay men of a majoritarian ethnicity that is structurally privileged in economic, political and social life.Referent_innen:
Prof. Dr. María do Mar Castro Varela ist Professorin der Alice-Salomon-Hochschule mit den Schwerpunkt Gender und Queer Studies.
Aktuelle Publikation: Hegemony and Heteronormativity. Revisiting ‘The Political’ in Queer Politics (Ashgate, 2011 – gemeinsam mit Nikita Dhawan und Antke Engel).
Dr. Jennifer Petzen ist Lehrbeauftragte an der Alice Salomon Hochschule, wo sie „Introduction to Gender and Queer Studies“ unterrichtet. Der Titel ihrer Doktorarbeit ist Gender Politics in the New Europe: the Civilising of Muslim Sexualities.
Koray Yilmaz-Günay ist seit 1.4. Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Davor war er jahrelang Aktivist und Publizist zu den Themen Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit, Homophobie und Diskriminierung allgemein.17 Uhr im Audimax der ASH
Sprache: Deutsch/Englisch
Language: German/English
(Quelle: http://queerinbewegung.blogsport.eu/eine-seite/5-mai-2011-im-audimax-der-ash/; google-maps; Verkehrsverbindungen bis U Hellersdorf (direkt neben der ASH): U-Bahn: U5 – Bus: X54, 195 – Tram: M6, 18)
Anmerkungen:
[Die folgenden Anmerkungen als .pdf-Datei.]
Ich weiß logischerweise nicht, in welche Richtung die Referentinnen die in dem Ankündigungstext angedeuteten Thesen weiterführen werden. Mir selbst erschiene allerdings folgende Weiterführung und Zuspitzung angebracht:
queere Globalisierung & imperialen Begehrens
„Der Input wird sich mit der Frage einer queeren Globalisierung auseinandersetzen, die sowohl im Sinne eines imperialen Begehrens als auch einer möglichen Widerstandsstrategie gegen national-staatliche Vereinnahmung der LGBTIQ Community gedacht werden kann.“
Mir scheint: Tendenz oder Möglichkeit 1 („imperiales Begehren“) ist die selbst in der linksradikalen queer-Szene dominierende (und vielleicht dominiert sie dort sogar noch mehr als im queeren mainstream, der immerhin auch ‚innenpolitische’ Lobbypolitik betreibt).
Der/die Berliner queer AktivistIn von heute weiß bestens über Schwulen- und Lesben-Verfolgung in Zimbabwe, Honduras und im Iran Bescheid; kennt die Routen der CDS in Budapest, Belgrad, Warschau und Moskau und wagt dort vielleicht sogar zusammen mit schwulen mainstream-Politikern die Konfrontation mit der Polizei und militanten Homophoben. Zu den hiesigen sexuellen und geschlechtlichen Verhältnissen (auf andere Politikfelder komme ich noch zu sprechen) hat der/die Berliner queer dagegen nichts zu sagen – außer vielleicht noch unter dem Gesichtspunkt des Transsexuellengesetzes und der Zwangs-OPs an Intersexuellen.
Nach dem queeren Szene-Weltbild scheint es – jedenfalls nach dem Aufruf für den letztjährigen Berliner transgenialen CSD und den Aufrufen für die Vorjahre1 zu urteilen – für Schwule und Lesben (als Schwule und Lesben), die nicht trans- oder intersexuell sind, für Frauen gar (als Frauen), die keine Lesben sind, an den „deutschen Zuständen“ (S. 380) nicht viel auszusetzen zu geben.
Für hier hagelt es Gewaltfreiheits-Postulate mit einer Penetranz, die es mit der der grünen RealpolitikerInnen in deren vor-bellizistischer Zeit problemlos aufnehmen kann: „Wir wenden uns gegen jede Form von sexueller, psychischer und körperlicher Gewalt!“ (meine Hv.). Diese Ansage aus dem schon erwähnten tCSD-Aufruf 2010 ist der pauschale Verzicht auf Gegengewalt; ist die lamentierende Unterwerfung unter dem status quo, dessen Gewaltsamkeit bloß beklagt wird.
Steckt nicht in dieser Ungleichverteilung der analytischen und politischen Aufmerksamkeit in Sachen Sexual- und Geschlechterpolitik nicht auch ein „imperiales Begehren“? Nämlich das Begehren die hiesigen durch eine ziemlich rosa-rote Brille gesehenen sexuellen und geschlechtlichen Verhältnisse und das hiesige Szene-Politik-Verständnis nach Moskau, Warschau, Budapest, Belgrad, Zimbabwe, Honduras und in den Iran zu exportieren – natürlich lieber in autonomer Eigeninitiative als mittels Bundeswehr; aber eben doch zu exportieren?
Und von ‚Export’ (und nicht von der beanspruchten „Solidarität“) ist jedenfalls dann zu sprechen, wenn die queeren und anderen AkteurInnen in der globalen Peripherie und Semi-Peripherie ausschließlich als dort „Verfolgte“ (noch einmal tCSD-Aufruf 2010), denen hier „Schutz“ (jedenfalls vor Homophobie) zu bieten ist, wahrgenommen werden. Ist das nicht der linksradikale Beitrag zur herrschenden Praxis politische Partizipation durch Caritas zu ersetzen (Hito Steyerl)?
single-issue sexual politics und queer als vermeintliche Alternative dazu
„I use the term ‘gay and lesbian’ as a way to describe a single-issue sexual emancipatory politics, whether progressive or other, and which is also based on a modernist conception of homosexual identity.“
Der Kritik an single-issue sexual emancipatory politics würde ich zustimmen – nur scheint mir nahezu alles davon abzuhängen, welche Alternative dem entgegengesetzt wird und welche Rolle dabei das Wort queer spielt.
In der „progressive“ (deutlicher: autonomen, linksradikalen) queer Szene wird queer als Gegenbegriff zu single-issue sexual emancipatory politics verwendet. Berliner „progressive“ queers haben nämlich durchaus etwas an den „deutschen Zuständen“ zu kritisieren: an der Bundeswehr, an der Mietenpolitik, an der Sozialpolitik, sogar am Rassismus – jedenfalls wieder am tCSD-Aufruf 2010 gemessen –; nur eben fast nichts an den hiesigen sexuellen und geschlechtlichen Verhältnissen.
Das hat einen doppelt problematischen Effekt:
1. Auf dem originären Feld von queer politics (die Aneignung des Begriffs und die Entwicklung entsprechender Politikformen erfolgte in den USA bekanntlich im Kontext der AIDS-Krise und den daran anknüpfenden Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen) hat „progressive“ (deutlicher: autonome, linksradikale) queer Politik dem queeren mainstream überhaupt nichts entgegenzusetzen. Die Radikalität des tCSD im letzten Jahre war vollständig eine ‚geliehene’ – ‚geliehen’ durch Übernahme einiger Parolen des hetero/a/normativen Teils der autonomen Szene gegen Gentrifizierung, Militarismus und andere jeweilige Mode-Themen.2
2. Wenn also „queer“ in diesem „progressive“ (deutlicher: autonomen, linksradikalen) Sinne fast gar nichts zum Feld der Sexual- und Geschlechterpolitik zu sagen hat, dann ist queer in diesem Diskurs ein Ersatzwort für „autonom“, „linksradikal“ oder „revolutionär“. Und spätestens bei dem letzten Wort wird deutlich, worum es bei „queer“ geht: „revolutionär“ will auch in der „progressive“ queer-Szene keineR ‚sein’ (genauso wenig wie beim mainstream-CSD); und eine revolutionäre Praxis entwickeln schon gar. Selbst die Wörter „autonom“ und „linksradikal“ werden – wiederum an den tCSD-Aufrufen gemessen – gemieden.
„queer“ im Sinne dieser „progressive“ scene in Berlin zeichnet sich also nicht durch eine – gegenüber dem schwullesbischen mainstream – größere Radikalität auf sexualitäts- und geschlechterpolitischem Felde, schon gar nicht durch mehr Feminismus aus, sondern ist einfach eine soft-Variante linksradikaler Politik: Glitter statt Steine; Sekt statt Bier. „Kein Alk auf Demos“ – das ist voriges Jahrtausend.
Und wo bleibt das Positive?
Ich würde dagegen genau die gegenteilige (Begriffs)strategie vorschlagen wollen: nämlich queer gerade auf sexual- und geschlechterpolitischem Felde revolutionär zu profilieren; und dann müßten allerdings dazu noch andere revolutionäre Teilbereichs-Politiken hinzukommen. Dies würde freilich voraussetzen, über einen Begriff revolutionärer Politik zu verfügen, von dem aus diese Teilbereichs-Politiken entwickelt werden könnten – statt bestimmte Politikfelder (Flüchtlingspolitik, gentrification etc.) zu claimen, um damit die – trotz allem queer-postmodernem Getue – modernist identity bestimmter Szenen zu stabilisieren.
An nichts fehlt es „progressiver“ Politik seit 1989 aber mehr als an einem solchen Begriff revolutionärer Politik. Allerdings gibt es historische Überlegungen und Erfahrungen, an die angeknüpft werden könnte.
- Im Aufruf 2010 gab es die Wörter „feministisch“ und „Feminismus“ sowie „Sexismus“ und „sexistisch“ gar nicht, und „geschlecht“ kam ausschließlich in Form des zusammengesetzten Ausdrucks „zweigeschlechtliche heteronormative Welt“ vor. Im Aufruf für 2009 gab es immerhin den Satz: „Bestenfalls werden sie gnädig ‚toleriert’ oder ‚akzeptiert’, […]. Das verdeckt nichts von der rassistischen, homophoben, transphoben, frauenfeindlichen Gewalt, der Ausgrenzung von nicht-‚schönen’, nicht-jungen, nicht-reichen, nicht-weißen, behinderten, politisch unbequemen Menschen, die in dieser Gesellschaft – und leider auch innerhalb unserer Szenen – Alltag ist.“ Aber auch dieser Aufruf war im übrigen ein weltpolitischer Rundumschlag (zu Bildung, Wohnraum, IWF usw.) ohne geschlechts- und sexualitätspolitischer Verortung dieser Themen.
Für 2008 scheint es keinen richtigen Demo-Aufruf gegeben zu haben (jedenfalls ist er online nicht dokumentiert), sondern nur eine kurze Einladung zur Beteiligung. Auch dort waren homophobe und sexistische Übergriffe nur Bestandteil einer längeren Aufzählung: „gegen Vertreibung, gegen Diskriminierung, gegen Kommerzscheiße. Thematisiert werden sollen unter anderem homophobe, transphobe und sexistische Übergriffe in Neukölln und Xberg einerseits, andererseits Gentrification im Neuköllner Reuterkiez.“ Der Aufruf 2007 war ein völlig subjektivistisches „Wir haben keinen Bock auf…“-Auskotzen; „sexistisch organisierte homo- und transphobe Gesellschaft“ war ein Punkt unter vielen, aber kein Begriff, der die Analyse der gesellschaftlichen und politischen Situation strukturiert hätte. Auch der für 2006 dokumentierte Text war eher eine Einladung als ein Demo-Aufruf. Inhaltlich war er etwas analytischer und strukturierter als die späteren. Er wurde von der Männer-Fußball-WM als aktuellem Ereignis mehr oder minder zusammengehalten, und an ihr wurden verschiedene Kritikpunkt festgemacht: „Wir verstehen uns bewusst als Kontrapunkt zur WM, grölenden Männerhorden und Nationalismus.“ und „RASSISMUS ist eine gesellschaftliche Struktur wie der SEXISMUS, mit dem wir während der WM zugeschüttet werden“.
Zusammenfassend läßt sich sagen: In den fünf Jahren von 2006 bis 2010 kam kein einziges Mal in den Aufrufen die Wörter „Patriarchat“, „patriarchal“, „Feminismus“ und „feministisch“ sowie „Geschlechterverhältnis“ vor; „sexistisch“ und „homophob“, wenn überhaupt, nur als einzelne Aufzählungspunkte unter vielen, aber nicht als zentrale Objekte queerer Gesellschaftsanalyse und queeren Widerstandes.
Die Aufrufe übernahmen die auch im hetero/a/normativen Teil der autonomen Szene üblichen Themen und hängten bestenfalls, als Betroffenheits-Anliegen, einen Satz Homophobie- und Sexismus-Kritik dran. Die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganze wurde aber nicht unter diesem Fokus analysiert und folglich auch nicht von dort aus eine politische Strategie entwickelt. [zurück] - Siehe noch einmal Fußnote 1 zu den Aufrufen der letzten Jahre. [zurück]
Bericht zur Veranstaltung
Ich fand die Vorträge interessant und war auch mit vielem inhaltlich einverstanden; fand aber auch, daß die beiden Referentinnen die „heißen Eisen“, die sie sich als Themen vorgenommen hatten, durchaus noch etwas entschlossener hätten anpacken können.
I.
María do Mar Castro Varela lief leider die Zeitplanung für ihren Vortrag aus dem Ruder. Als der Moderator sie darauf hinwies, daß ihr noch 5 Minuten verblieben, sagte sie, daß sie gerade erst mit dem ersten Drittel ihres Vortrages durch sei. Dieses erste Drittel war eine kursorische Einführung in Globalisierungs- und Postkolonialismus-Theorien.
Zu dem eigentlich angekündigten Thema kam sie dadurch kaum: „Und was tun mit der Notwendigkeit transnationaler queerer Bündnisse und ihrer scheinbaren Unmöglichkeit? Der Input wird sich mit der Frage einer queeren Globalisierung auseinandersetzen, die sowohl im Sinne eines imperialen Begehrens als auch einer möglichen Widerstandsstrategie gegen national-staatliche Vereinnahmung der LGBTIQ Community gedacht werden kann.“
Das einzige, was sie zum Thema „imperiales Begehren“ in queer Kontexten in den verbleibenden 5 Minuten noch etwas genauer ausführte, war eine Kritik an exotisierenden und rassifizierenden Zuschreibungen in schwullesbischen Reiseführern. Das fand ich – im Sinne des in der Vortragsankündigung angeführten Zitates von M. Jacqui Alexander: ‚… who is made to remain silent within his local economy in order to be appropriately consumed’ – plausibel. Allerdings würde ich „Tourismus“ nicht gerade als einen Unterfall von (politischen) „Bündnissen“ ansehen.
Darüber hinaus wies sie darauf hin, daß ein derartiges „imperiales Begehren“ auch bei dem Engagement für weltweite Schwulen- und Lesben-Rechte eine Rolle spielen kann. Dies würde nun für mein Begriffsverständnis eher unter „Bündnisse“ fallen, wurde aber von der Referentin – wahrscheinlich aus besagten Zeitgründen, aber leider auch auf Nachfrage in der anschließenden Diskussion – nicht genauer ausgeführt.
II.
Jennifer Petzen referierte über drei Beispiele (eine Konferenz über Intersektionalität, eine Tagung von Ökofeministinnen und ein ganz aktuelles Beispiel: ein Vorbereitungstreffen für den diesjährigen tCSD – wohl gemerkt: tCSD, nicht CSD), wo sie „Rassismus“ in queeren Kontexten ausmachte. Der Vortrag hinterließ bei mir ein etwas schales Gefühl: „Rassismus“ in dieser Weise anhand von konkreten Beispiele in einem mündlichen Vortrag vor Leuten, die diese Beispiele überwiegend nicht miterlebt haben, darzustellen, muß – wie mir scheint – zwangsläufig Lücken in der Beweisführung aufweisen (es fehlen Kontextinformationen, und es können selbst die gegebenen beim bloße Zuhören nicht alle aufgenommen werden; theoretische Positionen lassen sich dagegen weitgehend ohne derartiges Zusatzwissen verstehen und im Bedarfsfalle kritisieren):
So hat bspw. die von Jennifer Petzen vorgebracht generelle Behauptung, es gebe eine Tendenz schwarzen Wissenschaftlerinnen empirische Forschung zuzuweisen, während weiße Wissenschaftlerinnen für sich die theoretische Synthese beanspruchten, vorderhand eine gewisse Plausibilität. (Um als Wahrheit anerkannt zu werden, müßte allerdings auch diese Behauptung mittels einer repräsentativen Untersuchung von Konferenzprogrammen, Zeitschriften- und Buchveröffentlichungen bewiesen werden müßte, und zu untersuchen wäre ggf. auch, inwiefern sich vielleicht weiße und schwarze Wissenschaftlerinnen an der Reproduktion dieser Arbeitsteilung beteiligen). Aus der allgemeinen Hypothese folgt aber noch nicht (und zwar selbst dann nicht, wenn sie bewiesen wäre), daß jede Tagung, bei der eine Schwarze über Empirie und eine Weiße über Theorie referiert, „rassistisch“ ist oder die Veranstalterinnen (subjektiv) Rassistinnen sind. Diese feinen, aber wichtigen Unterschiede müßten m.E. genauer beachtet werden (wenn das Funktionieren der rassistischen gesellschaftlichen Struktur analysiert und wirksame Kritikstrategien entwickelt werden sollen), als dies in dem Vortrag der Fall war oder ich es – in dem auf Englisch gehaltenen Vortrag – verstanden habe.
Was leider auch in dem Vortrag etwas kurz kam, war dieser Aspekt der Vortragsankündigung: „This critique does not only include the reactionary tendencies in mainstream LGBT politics against which Butler was protesting but also focuses on more white-dominated progressive groups that seem unable to successfully engage with anti -racist and queer and trans of color critiques.“
Zum einen hätte ich gerne eine genauere Erläuterung der Charakterisierung des von Butler im vergangenen Jahr beim Berliner CSD als rassistisch kritisierten Spektrums als „reactionary tendencies“ gehört. Mich überzeugt diese Charakterisierung nämlich nicht so richtig. Zu einem ganz erheblich Teil dürfte es sich nämlich um ein realo-grünes, linksliberales, allenfalls noch neoliberal-modernistisches CDU-Spektrum handeln. Das macht zwar deren Positionen nicht besser, aber unterstreicht das Problem: Rassismus ist nämlich nicht nur etwas, was in den „reaktionären“ Teilen der Gesellschaft existiert.
Komplementär dazu verhält es sich mit dem Ausdruck „more […] progressive groups“ und den drei von Jennifer Petzen behandelten Beispielen: Der transgeniale CSD, Petzens drittes Beispiel, ist als politischer Akteur mehr oder minder bekannt; in welchem politischen Spektrum dagegen die beiden anderen Beispiele (Tagungen) einzuordnen sind, wurde dagegen nicht vollständig klar.
Zu dem tCSD-Beispiel berichtete Petzen, daß bei dem vergangenen Vorbereitungstreffen von einer Person vorgeschlagen wurde, die diesjährige Route an einem Flüchtlingsheim vorbeizuführen, und daß diese Person auf Nachfrage nach der politischen Idee hinter dem Vorschlag, ins Schwimmen geriet und sich auf Floskeln wie „kennenlernen“, „Austausch“ usw. zurückzog. (Ich war auch bei dem Treffen und ebenfalls etwas erstaunt über die lavierende Antwort – zumal sich der tCSD ja nun im vergangenen Jahr groß als positive Alternative zum „rassistischen“ mainstream-CSD darzustellen versuchte –; aber was der Vollständigkeit halber auch gesagt werden muß: Andere Ideen zur Route wurden auch nicht besser begründet und diesbzgl. wurde nicht einmal nachgefragt und folglich auch nicht geantwortet, sodaß es allein schon deshalb an weiteren Gelegenheiten zum ‚Staunen’ fehlte…1). –
In der Diskussion nach den Vorträgen erwähnte Jennifer Petzen als ein weiteres Beispiel, das wohl tatsächlich die „more […] progressive groups“ – also den Grenzbereich von noch nicht vollständig ngo-isierten sozialen Bewegungen und autonomer Szene – betrifft den exzessiven weißen deutschen Polittourismus (vom Sozialforum in Diyarbakir zum Grenz-Camp auf Lesbos zu den Anti-IWF-Mobilisierungen in Istanbul) und konkret Diskussionen über die Nutzung der sanitären Infrastrukturen des Grenz-Camps durch Flüchtlinge. Das wurde aber leider auch nur kurz angetippt. –
III.
Ich würde davon ausgehend zwei Themen für die weitere Diskussion vorschlagen wollen:
1. Im Gegensatz zu vielen anderen Fehlentwicklungen ist die weit überwiegende Definition von linker Politik als Solidaritäts-Arbeit (sei es in Bezug auf Bewegungen und Gruppen im Trikont; sei es in Bezug auf Flüchtlinge und Migrantinnen hier) – und der daraus gezogene selbst-beweihräucherische moralische Mehrwert – nicht erst eine Fehlentwicklung der letzten 20 Jahre, sondern schon im Kontext von Frankfurter Schule- / ’68er-Mutmaßungen über die Stillegung des Klassenkampfes in den imperialistischen Metropolen aufgekommen (und im übrigen auch schon mehr als einmal und nicht nur von KommunistInnen kritisiert worden).
Der Zusammenhang der gesellschaftlichen Widersprüche und Kämpfe wird nicht gesehen und nicht entwickelt, statt dessen die Position des selbstlosen Helfers / der selbstlosen Helferin eingenommen.
2. Es dürfte wohl einer genauen historischen Untersuchung (anhand von Demo-Aufrufen, Presseerklärungen, Protokollen von Bündnis-Treffen, Zeitzeuginnen-Interviews usw.) wert sein, zu analysieren welchen – durchaus instrumentalistisch benutzten – Einsatz Flüchtlingspolitik und Rassismus(-Vorwürfe) in den Auseinandersetzungen zwischen institutioneller NGO-Politik und mehr oder minder autonomer Szene-Politik um den CSD schon in den 1990er Jahren darstellten. Im letzten Jahr war der tCSD – Dank der akademischen Autorität Judith Butlers – ja eindeutig auf der Seiten des moralisch ‚Guten’. Ich will aber mal die These wagen, daß Flüchtlingspolitik und Rassismus-Vorwürfe auch deshalb in diesen Auseinandersetzungen eine so große Rolle spielten, weil die ‚autonome’ Position argumentativ und organisatorisch keine Chance hatte, sich gegen die NGO-/Lobby-Position durchzusetzen. Und da lag es dann nahe (durchaus nicht als Lüge, sondern subjektiv ehrlich) auf den moralischen Joker Flüchtlingspolitik/Rassismus, die ja – aus dem bei Nr. 1 genannten Grund – in autonomer Politik ohnehin eine große Rolle spiel(t)en, zurückzugreifen.
Damit will ich nun weder sagen, daß Flüchtlingspolitik und antirassistische Arbeit keine wichtigen Themen seien, noch daß nicht (vermutlich) autonome Politik jedenfalls als kleineres Übel der Lobby-Politik von LSVD & Co. vorzuziehen sei. Aber:
++ ein Problem mit der argumentativen Glaubwürdigkeit entsteht, wenn Flüchtlingspolitik und Rassismus benutzt werden, um anderweitige Argumentationslücken zu überbrücken
++ ein politisches Problem entsteht, es überhaupt keine politische Analyse und Strategie gibt, in deren Rahmen dann Flüchtlingspolitik und Rassismus den gebotenen wichtigen Stellenwert bekommen, sondern es bei der (deskriptiven) Auflistung und dem Beklagen von ‚Mißständen’ bleibt – wie es jedenfalls bei den online dokumentierten tCDS der letzten fünf Jahre weitgehend der Fall war.
Es ist nämlich nicht unmittelbar einsichtig, aus welchem Grunde wer/welche gegen die ‚Diskriminierung’ von Schwulen und Lesben ist, auch gegen die ‚Diskriminierung’ von MigrantInnen und Flüchtlingen sein ‚muß’ (und umgekehrt genauso wenig!).2
Dieser Zusammenhang stellt sich als analytisch und strategisch zwingender – und nicht nur moralisch postulierter – nämlich überhaupt erst her, wenn ein politisches Konzept existiert, das auf die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes zielt (da um die Interdependenz deren einzelnen Elemente gewußt wird). – Im Rahmen einer Spiegelstrich-Aufzählung von ‚Mißständen’ ist dagegen letztlich beliebig, ob die Aufzählung nach dem dritten, fünften oder 25 ‚Mißstand’ beendet wird.
Ich hätte ja nun wirklich gedacht, daß die linke Diskussion – zumal bei Leuten, die im vergangenen Jahr den mainstream-CSD noch als „rassistisch“ kritisierten – über rassistische Strukturen und deren Reproduktion auch in der Linken längst über den psychologisierenden und individualisierenden Begriff der „Vorurteile“ hinaus ist; und daß in Zusammenhängen, die irgendeine Affinität (und sei es bloß als BündnispartnerInnen) zur autonomen Szene haben, nicht nur die Frage gestellt wird „Wie lassen sich Konflikte friedlich lösen?“, sondern auch die Fragen: „Ist es immer möglich und wünschenswert Konflikte ‚friedlich’ zu lösen?“ und: „Sind ‚Gewaltsituationen’ immer etwas, in das wir anscheinend irgendwie passiv hineingeraten und wo wir dann Orientierungsschwierigkeiten haben und dann erst fragen müssen was wir ‚in’ ihnen tun können?“, „Kann sich Widerstand auf das Dogma der ‚gewaltfreien Kommunikation’ festlegen lassen?“
Zu dieser ganzen Fehlorientierung, die den Radikalitätsanspruch des tCSD weder analytisch noch strategisch ausweisen kann, sondern untergräbt und praktisch auf eine Differenz des kulturellen Ausdrucks (Schmuddel-look statt Schickimicki) und des besseren Wollens reduziert, paßt auch noch, daß bei besagtem tCSD-Treffen als Aufgabe der – nach den sexuellen Belästigungen des Vorjahres – für dieses Mal zu schaffenden awareness-Struktur „Deeskalation“ (!) genannt wurde. Deeskalation statt Parteilichkeit! – aber: ach wie radikal sind wir und was für eine Spießer-Organisation ist der LSVD, der nur in der Mitte der Gesellschaft ankommen will. [zurück]
Der CSD – und auch der tCSD – ist eben keine revolutionäre 1. Mai-Demo und erstrecht keine FemAntiraKP. -
Oder noch mal anders: Eine Kritik daran, wie der LBGT-mainstream auf seinem eigenen Feld Politik macht (Gleichberechtigungs- und Staatsorientierung; falsche Erklärung trans- und homophober Gewalt usw.), findet ich richtig und nachvollziehbar -
aber vom LBGT-mainstream zu erwarten, er solle sich als LBGT-mainstream auch um alle anderen Macht- und Exklusionsmustern kritisch kümmern – das finde ich, geht an der Logik von Bewegungspolitik vorbei. —
Was würde denn ein solcher Anspruch bspw. am Punkt der von Butler und den von ihr gelobten Gruppen angesprochenen Anti-Kriegspolitik heißen? Keine Bündnisse mehr mit LBGTs, die NATO-Kriege befürworten – egal für welches konkrete Anliegen das jeweilige Bündnis geschlossen werden soll?
Oder kein Bündnisse mehr, keine gemeinsamen Veranstaltungen mehr, keine gemeinsame Unterschriftensammlung mehr usw. bspw. für die von Dir angesprochenen “Adoptionsrechte” und “Gleichstellung der Ehe mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft” (oder Abschaffung der Ehe), wenn unsere BündnispartnerInnen nicht zugleich auch für Offene Grenzen und die Auflösung der Bundeswehr sind?!
Es liegt doch einfach in der Logik von Bündnispolitik, daß Bündnisse je nach Ziel immer wieder neu zusammengesetzt werden.“ (http://maedchenmannschaft.net/judith-butler-und-die-schwul-lesbische-dekonstruktion/#comment-29418) [zurück]
Sozusagen noch eine Fortsetzung zum hiesigen Artikel:
Eine revolutionär-feministische Perspektive auf die „linksradikale, queerfeministische Perspektive“ (von Samstag) auf den 8. März
https://linksunten.indymedia.org/de/node/108153