- „von dem denkenden, bessern Theile des Volks [strömt] das Licht der Weisheit herunterströmt“
Friedrich Schiller pars pro toto für die deutschen Akademiker1
@ politics
Angeblich „30.000 Bürgerinnen und Bürger (Stand, Montag 13:08 Uhr)“2 sorgen sich in der Affäre-Guttenberg „als“3 – angebliche oder tatsächliche – „Doktorandinnen und Doktoranden“ um ihre akademische Standesehre. Sie wenden sich aber nicht an ihre Institution, an die Institution Universität, die für die Vergabe von Doktortiteln zu ständig ist, sondern an die Bundeskanzlerin, die dafür nicht zuständig ist. Sie wenden sich an die Bundeskanzlerin, da diese 30.000 BürgerInnen „als Doktorandinnen und Doktoranden“ sich von Angela Merkel schwer gekränkt fühlen: „Er [Guttenberg] hat dabei [am 23.2. in der Aktuellen Stunde des Bundestages] auf eine Formulierung von Ihnen angespielt, wonach Sie ihn nicht als ‚wissenschaftlichen Assistenten’ eingestellt hätten. Dies ist eine Verhöhnung aller wissenschaftlichen Hilfskräfte sowie aller Doktorandinnen und Doktoranden, die auf ehrliche Art und Weise versuchen, ihren Teil zum wissenschaftlichen Fortschritt beizutragen.“
Nur sollten diese Herren und Damen AkademikerInnen wissen: Guttenberg ist in der Tat nicht der wissenschaftliche Berater von Frau Merkel und auch kein Beamter im Bundeskanzleramt, der ggf. bestimmte Laufbahnvoraussetzungen erfüllen muß, sondern Politiker. Kriegsminister. Und diese Herren und Damen AkademikerInnen sollten noch aus ihrem Schulunterricht wissen, daß selbst Deutschland mittlerweile den Feudalismus hinter sich gelassen hat. Der Zugang zu politischen Ämtern ist seitdem nicht mehr an bestimmte Standeszugehörigkeiten und auch nicht das Führen eines Doktortitels gebunden. Und das ist gut so.
‚Schlimm’ ist nicht, daß auch ein Arbeiter mit Hauptschulabschluß und eine Putzfrau ohne Schulabschluß Bundeskanzler bzw. Bundeskanzlerin werden dürften. ‚Schlimm’ ist, daß sie es faktisch nicht können. Insofern wäre es auch nicht ‚schlimm’, wenn Guttenberg ohne Dr.-Titel Minister geworden wäre oder es ohne geblieben wäre.
Die ArbeiterInnenbewegung hat jahrzehntelang, nahezu ohne jeden Zugang zu akademischer Bildung, allein unterstützt von einer handvoll bürgerlicher Intellektueller, die aber überwiegend auch außerhalb der Akademie standen, leidlich erfolgreich Politik gemacht.
Die wissenschaftliche Qualität oder vielmehr Nicht-Qualität der Dissertation Guttenbergs tut also in der Tat nichts zur Sache, wenn es darum geht, ob Guttenberg ein guter Politiker, ein guter Kriegsminister ist. Da hat die Bundeskanzlerin völlig recht.
Allein die Frage der Ehrlichkeit Guttenbergs ist eine Frage, die auch von außer-akademischer, vielleicht von politischer Relevanz ist4. Die 30.000 angeblichen „Doktorandinnen und Doktoranden“, die die wissenschaftlichen Standards so hochhalten, behaupten: „Sie [die inkriminierte Assistenten-Äußerungen Merkels] legt darüber hinaus nahe, dass es sich beim Erschleichen eines Doktortitels um ein Kavaliersdelikt handele und dass das ‚akademische Ehrenwort’ im wirklichen Leben belanglos sei.“
Zu den hochgehaltenen Standards würde es aber auch gehören für eine Behauptung ein Argument oder einen Beweis vorzubringen. Aber Fehlanzeige bei unseren 30.000 deutschen AkademikerInnen. Weder begründen sie, warum dies angeblich in Merkels Äußerungen impliziert ist (damit dürften sie allerdings sogar recht haben), noch (und dies ist der wichtigere Punkt), warum die beiden impliziten Behauptungen Merkels falsch sein sollen – dieser (seinerseits implizite) Vorwurf wird mit dem Satz ja wohl erhoben, oder nicht?! – Der Vorwurf, daß in Wahrheit das Erschleichen eines Doktortitels kein Kavaliersdelikt sei und das ‚akademische Ehrenwort’ im wirklichen Leben nicht belanglos sei.
Zu den hochgehaltenen wissenschaftlichen Standards würde es des weiteren gehören, die verwendeten Begriffe zu definieren und nicht politisch-journalistische Schlagwörter zu verwenden. Was ist denn mit „Kavaliersdelikt“, das das „Erschleichen eines Doktortitels“ nicht sei, hier genau gemeint? Ist das ein strafrechtliches Urteil? Ein wissenschaftstheoretisches Urteil? Ein politisches Urteil? Oder doch nur ein moralisches Urteil? – Oder wissen die AutorInnen letztlich selbst nicht so genau, warum und worüber sie empört sind?
Politik ist durchaus nicht (und kann auch nicht sein, solange Herrschaft und Ausbeutung bestehen), wie aber Professor Habermas meint, ein „herrschaftsfreier Diskurs“; und Politik ist auch nicht das Wahre, Schöne und Gute, wie wohl Friedrich Schiller meinte5, sondern die Formierung von Interessen und der Kampf um deren Durchsetzung. Dafür sind wissenschaftliche Expertise und auch Ehrlichkeit häufig nützlich. Aber auch List und Tücke gehören zum politischen Geschäft – und zum Kriege führen zumal – dazu. Was Guttenberg als Kriegsminister disqualifiziert, ist weniger, daß er bei seiner Diss. betrogen hat, als das er sich hat dabei erwischen lassen.
Im übrigen: Nichts dagegen, wenn 30.000 BürgerInnen oder mehr die Entlassung Guttenbergs gefordert hätten – sei es wegen seiner Unehrlichkeit oder (was der viel bessere Grund wäre) wegen seiner leidlich erfolgreichen Politik für die falschen Interessen. Dieses Anliegen wäre dann allerdings nicht „als Doktorandinnen und Doktoranden“, sondern als BürgerInnen zu formulieren. Denn kulturelles (hier: Bildungs)kapital in politischen Mehrwert umzusetzen, verletzt den Grundsatz one (wo)man, one vote nicht weniger als ökonomisches Kapital in politischen Mehrwert umzusetzen. –
Was sich in dem Offenen Brief der 30.000 fortsetzt ist die als solche keinesfalls neue Beanspruchung einer privilegierten Sprechposition qua akademischem Titel. Was uns hier in Form der Intervention von 30.000 AkademikerInnen bei Angela Merkel wegen der ‚causa Guttenberg’ mit etwas verschobenen Fronten (aber gleichem ‚klassenpolitischen Gehalt’ – wenn es erlaubt ist, daß ich mich dieser dem heutigen akademischen Sprachgebrauch so inadäquaten Terminologie bediene) begegnet, ist das, was uns nicht erst, aber verschärft seit dem Aufstieg des Neoliberalismus begegnet: „Sachverständige“, „Experten“ – zumeist sind es in der Tat weiterhin Männer – sagen als Akademiker den BürgerInnen, was angeblich richtig und notwendige politische Entscheidungen sind. Sie beanspruchen als Akademiker eine privilegierte politische Sprechposition, was sub specie democratiae nicht akzeptabel ist.
@ Wissenschaft:
Außer zur Politik, von der sie entweder keine Ahnung haben oder aber in der sie sehenden Auges ihre akademischen Standesinteressen vertreten, äußern sich diese 30.000 „Doktorandinnen und Doktoranden“ zur Wissenschaft, von der sie anscheinend auch nicht viel mehr Ahnung haben.
Sie schreiben zwar dieses oder jenes Wahre bzw. Richtige. Aber sie übersehen schon das Entscheidende: Die Bundeskanzlerin ist nicht die Kontrollinstanz, die über die Einhaltung wissenschaftlicher Standards (über die die 30.000 BriefschreiberInnen durchaus punktuell Zutreffendes schreiben) zu wachen hat – und, wenn sie es wäre, so wäre dies mit der von Art. 5 III GG garantierten Wissenschaftsfreiheit unvereinbar.
Die 30.000 „Doktorandinnen und Doktoranden“ schreiben zurecht: „Bei der Beachtung der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis geht es nicht um ‚Fußnoten’, nicht um Kinkerlitzchen, […]. Es geht um die Grundlagen unseres Arbeitens und Vertrauenswürdigkeit.“
Aber das müßten die 30.000 BriefschreiberInnen nicht der Bundeskanzlerin entgegenhalten, sondern ihrer eigenen Institution und vielleicht noch den HochschulministerInnen, die aus den Universitäten immer mehr Berufsausbildungs- und immer weniger Einrichtungen machen, an denen wissenschaftliches Arbeiten gelehrt, gelernt und praktiziert wird.
Der Bolonga-Prozeß ist dabei nur der vorläufige Endpunkt einer langen Entwicklung, mit der die Wissenschaften – von durchaus unterschiedlichen politischen Richtungen und gesellschaftlichen Interessen – zu immer mehr ‚Anwendungsorientierung’ und ‚Praxisrelevanz’ gedrängt werden.
Und vor dieser Entwicklung machen unsere 30.000 kritischen BriefschreiberInnen ihren Kotau: „Wir halten die Studierenden dabei dazu an, von Anfang an sehr genau darauf zu achten, korrekt zu zitieren und jedes Hilfsmittel als solches kenntlich zu machen. Wir tun dies nicht, weil wir ‚Fußnotenfanatiker’ sind oder im ‚Elfenbeinturm’ sitzen und nicht wissen, was im wahren Leben zählt. Es geht uns schlicht darum, das Verständnis dafür weiterzugeben, dass wissenschaftlicher und damit gesellschaftlicher Fortschritt allein dann möglich ist, wenn man sich auf die Redlichkeit in der ‚scientific community’ verlassen kann.“6
Während es falsch ist, PolitikerInnen an ihren Fußnoten zu messen (siehe @ politics), müßten sich WissenschaftlerInnen offensiv-ironisch zu ihrem ‚Fußnotenfanatismus’ bekennen und ihren vermeintlichen Elfenbeinturm, diesem schon tausendfach von ApologetInnen der Tat, d.h.: des Tuns ohne zu Denken, umgehauenen Pappkameraden, verteidigen.
Aber nein, unsere 30.000 kritischen Briefschreiberinnen schmeißen sich jener Entwicklung an die Brust, sie wollen keine FußnotenfanatikerInnen sein, sie wollen nicht im Elfenbeinturm sitzen, nein, sie wollen nur ein bißchen „Redlichkeit“ – das moralische Ruhekissen zur bösen Tat – beanspruchen; sie wollen beanspruchen, daß „wissenschaftlicher und damit“7 auch schon „gesellschaftlicher Fortschritt“ möglich sei. Ja, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher „Fortschritt“ (wenn wir uns denn dieser geschichtsphilosophischen Metaphorik bedienen wollen) können konvergieren; aber das ist keine damit-Automatik.
Diese 30.000 BriefschreiberInnen wollen als AkademikerInnen die besseren PolitikerInnen zu sein, aber damit erweisen sie sich schon sowohl als die schlechteren PolitikerInnen und als die schlechteren WissenschaftlerInnen.8 Sie übersehen, daß Politik und Wissenschaften unterschiedliche Praxisarten sind – mit unterschiedlichen ‚Rohstoffen’ (Ausgangsmaterialien, Problemen, Fragen, Vorurteilen etc.), mit unterschiedlichen ‚Produktionsmitteln’ und ‚-verfahren’ (Methoden), mit unterschiedlichen ‚Produkten’ (wahren [oder irrtümlichen] Untersuchungsergebnissen; richtigen [oder falschen] Entscheidungen), unter unterschiedlichen ‚Produktionsverhältnissen’ (Institutionen und ihren Funktionslogiken, Qualitätsstandards etc.).9
Würden die BriefschreiberInnen diese unterschiedlichen Praxisarten bereit und in der Lage sein zu unterscheiden, dann würden sie Fragen stellen, die wirklich kritisch wären, die selbstkritisch wären:
- Dann würden sie fragen, wie eine Gestalt wie Guttenberg in einer Institutionen, in der die BriefschreiberInnen – wie sie schreiben – selbst teilweise lehren, akademisch sozialisiert werden konnte.
- Dann würde sie fragen, wie diese Arbeit, die ja anscheinend nicht nur ein Plagiat, sondern auch inhaltlich – nach einigen der in der FAZ zitierten Plagiat-Stellen zu urteilen – nichts anderes als ein in die Länge gewalzter politischer Essay ist (abgeschrieben kaum aus wissenschaftlichen Publikationen, sondern aus Zeitungsartikeln und Broschüren der Bundeszentrale für politische Bildung, diesen Popularisierungsformen wissenschaftlichen Wissens, verbunden mit starken politischen Wertung, und allenfalls noch aus Vorträgen von WissenschaftlerInnen, dieser vorläufigen Form der Präsentation eventuellen wissenschaftlichen Wissens bzw. dieser Form, mit der sich WissenschaftlerInnen selbst als PopularisiererInnen ihres Wissens betätigen), als Dissertation passieren konnte, ganz unabhängig davon, ob auch die Abschreiberei den Gutachtern hätte auffallen müssen.
- Dann würden sie fragen, wie einer dieser Gutachter, Prof. Häberle, als Koryphäe seiner Disziplin, deren Wissenschaftscharakter ich allerdings schon bei anderer Gelegenheit Anlaß hatte zu bezweifeln10, gelten kann.
- Dann würden sie fragen, ob ein derartiges mutmaßliches Machwerk (ich hatte noch keine Gelegenheit, diese zur Zeit anscheinend hoch begehrte Schrift in den Händen zu halten) nicht längst akademischer Durchschnitt ist.
- Dann würden sie fragen, was dies mit der Einführung von Bachelor-Ausbildungs-Studiengängen zu tun hat. Dann würde sie fragen, was dies mit der Abwertung der Publikationsform Buch zu tun hat. Dann würden sie fragen, was dies damit zu tun hat, daß immer mehr Zeitschriften-Aufsätze publiziert werden sollen, die Aufsätze-Länge in den Zeitschriften aber immer kürzer und die Schrift immer größer wird.
- Dann würden sie fragen, ob es nicht längst akademischer Durchschnitt ist, nur noch Hypothesen und Meinungen rauszuhauen (möglichst gleich mehrfach verwertet), aber kein Platz und keine Zeit mehr ist, Beweisführungen und Argumente vorzulegen.
- Dann würden sie fragen, was dies damit zu tun hat, daß viele Zeitschriften-Redaktionen keine redaktionelle Verantwortung mehr übernehmen, sondern sich hinter anonymen GutachterInnen verstecken, die ihrerseits in ihrer Anonymität unangreifbar und damit ohne Verantwortung sind.
- Dann würden sie fragen, was dies mit einer Kultur der call for papers, die die Illusion der problemlosen Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen Theorie- und Forschungsansätzen begünstigt, zu tun hat: Wer gestern noch dem linguistic turn folgte, folgt heute dem spatial turn und morgen dem nächsten turn ohne jemals die Frage zu stellen, ob die jeweiligen turns überhaupt und speziell für den eigenen Gegenstand einen geeigneten theoretischen Analyserahmen darstellen. Bei einer Konferenz, die das eigene ‚Thema’ behandelt, muß referiert werden; in einer Zeitschrift, die das eigene ‚Thema’ behandelt, muß publiziert werden – auch, wenn der eigene Gegenstand mal als „Diskurs“, mal als „Bild“ und mal als „Raum“ behandelt wird und mit einem solchen Begriffs-dropping weder die Analyse des jeweiligen Gegenstandes noch der jeweilige theoretische Ansatz ernsthaft weiterentwickelt wird, sondern bestenfalls unstrukturiert ‚Facetten’ des Gegenstandes und hierarchielose Gesichtspunkte gesammelt werden. Wer/welche so ‚wissenschaftlich’ arbeitet, schreibt und läßt auch passieren solche Dissertationen wie die des Minister a.D. Guttenberg.
- Und die BriefschreiberInnen würden dann schließlich noch die schnöde materielle Frage stellen, wo schlecht und vielfach auch gar nicht bezahlte universitäre Lehrbeauftragte die Zeit und die Energie hernehmen sollen, wissenschaftliche Hausarbeiten (die ja allerdings eh inzwischen weitgehend durch ‚Wissens’-Abfrage-Klausuren ersetzt wurden) nicht nur zu bewerten, sondern vorher nicht nur (inhaltlich) zu lesen, sondern etwaig abgeschriebene Textstellen zu suchen.
Die 30.000 BriefschreiberInnen schreiben gegen Ende ihres Textes: „Durch die Behandlung der Causa Guttenberg als Kavaliersdelikt leiden der Wissenschaftsstandort Deutschland und die Glaubwürdigkeit Deutschlands als ‚Land der Ideen’.“ Den werten Herren und Damen KollegInnen ist zu empfehlen, sich weniger um „Deutschland“ und mehr um die konkrete Praxis ihrer eigenen Institution zu sorgen; weniger im Reich der Ideen zu schweben, wo deutsche Intellektuelle schon immer mit großen Sendungsbewußtsein schwebten, sondern nach der konkreten Materialität des wissenschaftlichen Arbeitens zu fragen.
- Siehe FN 4. [zurück]
- http://offenerbrief.posterous.com/causa-guttenberg-offener-brief-von-doktorande [zurück]
- meine Hv. [zurück]
- Sicherlich, wenn PolitikerInnen die BürgerInnen belügen, dann ist das nicht in Ordnung. Daß die PolitikerInnen ehrlich über das, was sie tun und vorhaben, sind, ist die Minimalvoraussetzung begründeter Wahlentscheidungen und damit die Minimalvoraussetzung von – wie auch immer verstandener Demokratie.
Aber sicher ist auch: Wer/welche es nicht versteht, Kriegslisten erfolgreich anzuwenden, ist keinE guteR KriegsministerIn – und auch ansonsten keinE guteR PolitikerIn. Das haben doch alle schon mal erfahren, die versucht haben, auf einem Partei- oder Gewerkschaftstag oder in einem akademischen Selbstverwaltungsorgan einen Antrag oder in einem Demo-Bündnis einen Vorschlag durchbringen: Das geht nicht ohne Haken und Ösen und Nebenabsprachen usw. (das müßte im übrigen auch einer allzu euphorischen Wikileaks-Verteidigung – von den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Assanger ganz zu schweigen – entgegengehalten werden).
Zur Ehrlichkeit gegenüber den BürgerInnen (und zu politischem Realismus) gehört auch offen (und ohne moralisierendem Unterton) auszusprechen, wie Politik funktioniert und funktionieren muß, solange Herrschaft (innerstaatlich und international) eine Realität ist (daß sie eine Realität ist, zeigt sich schon daran, daß sie staatsgewaltförmig organisiert ist).
Sicherlich ist das eine Problem – und das ist die Lehre aus dem ‚Real’sozialismus, aber auch aus dem sozialdemokratischen Reformismus und der grünen Realpolitik –, daß das eigene Handeln nicht zur Perpetuierung der in dieser (herrschaftlichen) Weise funktionierenden Verhältnisse beitragen darf.
Aber das andere Problem – und das ist die Lehre aus den früh-grünen, früh-Neue soziale Bewegungen und sponti-autonomen Basisdemokratie-Illusionen – ist, daß es unmöglich ist, die Reinheit des idealen Ziels schon heute zum 1:1-Maßstab des Handelns zu machen.
Die Schlimmsten sind allerdings die, die in der Rhetorik das reine Ideal predigen, aber sich in der eigenen Praxis nicht dran halten – und dieses Phänomen tritt leider nur allzu häufig in der personalisierenden Skandalierungsrhetorik des politischen und journalistischen Geschäfts auf.
Und diese Doppelmoral trägt nicht weniger zur Passivierung der BürgerInnen und damit zum Abbau von demokratischer Kontrolle bei als die oben erwähnte Unehrlichkeit von PolitikerInnen.
Der Kampf gegen das Symptom (den Skandal) statt gegen das System (den Normalfall), läßt die Ursache des Symptoms unberührt und bestätigt, die BürgerInnen in dem (Vor)urteil, daß Politik ein ‚schmutziges Geschäft’ ist, aktiviert aber nicht dazu, daß das System (die Ursachen) in Frage zu stellen. [zurück] - Vgl. sein Konzept des Künstler-Staates, sozusagen ein update zu Platons Philosophen-Königen: „Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden, bessern Theile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks“ (http://gutenberg.spiegel.de/schiller/anstalt/anstalt.htm). [zurück]
- meine Hv. [zurück]
- meine Hv. [zurück]
- Vgl. dagegen http://theoriealspraxis.blogsport.de/about/: „Was WissenschaftlerInnen machen können ist: Sagen, was ist, analysieren, aufgrund welcher Mechanismen es entstanden ist, und was notwendig wäre, um es zu verändern, oder was notwendig wäre, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Die Frage, ob etwas verändert oder ein bestimmter Effekt erzielt werden soll, fällt dagegen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Wissenschaften, sondern in den der Politik – oder vielleicht noch der Moral oder Ethik, die aber ihrerseits (anders als die Wissenschaften) nicht für die Unterscheidung von Wahrheit einerseits und Irrtum/Lüge andererseits zuständig sind, sondern (kontroverse) Argumentationen zur Frage, was richtig und falsch bzw. gut oder böse ist, unterbreiten.“ [zurück]
- Vgl. http://www.marx2mao.com/Other/RC68i.html, S. 58 f.: „[…] there can be no scientific conception of practice without a precise distinction between the distinct practices and a new conception of the relations between theory and practice. We can assert the primacy of practice theoretically by showing that all the levels of social existence are the sites |of distinct practices: economic practice, political practice, ideological practice, technical practice and scientific (or theoretical) practice. We think the content of these different practices by thinking their peculiar structure, which, in all these cases, is the structure of a production; by thinking what distinguishes between these different structures, i.e., the different natures of the objects to which they apply, of their means of production and of the relations within which they produce (these different elements and their combination — Verbindung — obviously vary as we pass from economic practice to political practice, then to scientific practice and theoretico-philosophical practice). […]. We are not content to suppress the egalitarian myth of practice, we acquire a completely new basis for our conception of the relation between theory and practice, which is mystified in any idealist or empiricist conception. We regard an element of ‘knowledge’, even in its most rudimentary forms and even though it is profoundly steeped in ideology, as always already present in the earliest stages of practice, those that can be observed even in the subsistence practices of the most ‘primitive’ societies. At the other extreme in the history of practices, we regard what is commonly called theory, in its ‘purest’ forms, those that seem to bring into play the powers of thought alone (e.g., mathematics of philosophy), leaving aside any direct relation to ‚concrete practice‘, as a practice in the strict sense, as scientific or theoretical practice, itself divisible into several branches (the different sciences, mathematics, philosophy). This practice is theoretical; it is distinguished from the other, non-theoretical practices, by the type of object (raw material) which it transforms; by the type of means of production it sets to work, by the type of object it produces (knowledges).“ (fette. Hv. von mir; kursive Hv. i.O.). Vgl. auch noch: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/07/01/1-beitrag-zum-namen-und-zur-funktion-von-theorie-als-praxis/. [zurück]
- ‚Removing some rubbish’. Radikale Philosophie und die Konstituierung einer Wissenschaft vom Juridischen, in: Pia Paust Lassen / Jörg Nowak / Urs Lindner (Hg.), Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit (Festschrift für Frieder Otto Wolf), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2008, 332 – 352; online-Auszug: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/01/rubbish-und-rechtswissenschaft/. [zurück]
Vgl. auch noch:
[gegen Empirismus und Idealismus]
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2008/11/05/gegenempirismus-und-idealismus/.
Dieser Artikel ist eine ziemliche Frechheit. Es geht in der Tat nicht um Zugangsvoraussetzungen, sondern um das Erschleichen von Titeln, Vertrauen und um das Lügen. Das in der Politik ständig gelogen wird, ist keine Rechtfertigung für diese plakative Form. Ein Minister ist wie das Wort schon sagt, Diener und ist dem Rechtsstaat verpflichtet. Als Beamter schwört er auf die Verfassung. Und mit einem solchen Verhalten, hat eine Person nichts in einem Ministeramt verloren! Nur seine Glaubwürdigkeit.
Und – was hat ein zu Unrecht erlangter Dr.-Titel mit der „Verfassung“ und dem „Rechtsstaat“ zu tun?
Und gibt es irgendein konkretes Gegenargument gegen meine Ausführungen zur nur relativen Bedeutung von „Ehrlichkeit“ in der Politik?
Verärgert zu sein, ist kein Substitut für Argumente.
Hier die Akademiker gegen Guttenberg auszuspielen ist ein ziemlicher Blödsinn, der sich in umständliche Worthülsen tarnt. Fakt ist doch, dass ein erschlichener Titel von höchster politischer Stelle als Bagatelle abgetan wurde, und dagegen ebenso öffentlich anzugehen sollte das gute Recht einer Berufs- oder eben Bildungsgruppe sein, ob Akademiker, Handwerker oder sonstwer. Nicht mehr und nicht weniger scheint mir in diesem Fall geschehen zu sein.
Schade nur, daß es so vielen nur um die Glaub“würdigkeit“ geht, was man da glauben sollte, schließlich war Herr von Guttenberg „unser“ Kriegsminister, und was diese Sorte Kritiker ihm ja ohne weiteres auch weitgehend klaglos abgenommen haben (und es bei seinem Nachfolger ja sicherlich auch weiter tun werden), das kommt in der Diskussion überhaupt nicht vor.
Es ist deshalb auch ein Mangel der Diskussion, wenn TaP schreibt:
Denn die 30.000 und viele andere auch, verteidigen ja vehement Guttenbergs und ihr eigene Wissenschaftlichkeit mit dem Argument, wenn man nicht korrekt zitiert, dann sie die Wissenschaftlichkeit dahin, als wenn umgekehrt ein richtig toller fehlerlos zusammengestellter Zitate- und Fußnotenapparat schon ein verdammt guter Beweis für Wissenschaftlichkeit der gemachten und zitierten Aussagen sei.
@ Ingo Meier:
Das wurde aber nicht als wissenschaftliche Bagatelle abgetan (was zurecht zu kritisieren wäre), sondern als politische Bagatelle.
Und dagegen, daß ein (zeitweise) zu Unrecht erlangter Dr.-Titel keine politische Bagatelle ist, müßte zunächst einmal ein Argument vorgebracht werden.
@ neoprene:
Ja, das ist wahr. Ich hatte ja auch schon auf die Banalität des aus der Tagespresse und Broschürchen der Bundeszentrale für politische Bildung Abgeschriebenen hingewiesen.
Trotzdem sind Zitieren und FN eine wichtige Arbeitstechnik (nicht wegen des geistigen Eigentums, das uns KommunistInnen egal sein kann), sondern weil diese Arbeitstechnik grundlegend für jede Akkumulation von Wissen ist.
Nicht in jedem Text kann alles von Anfang an bewiesen werden, kann nicht jedes Argument elaboriert werden usw. – deshalb ist es wichtig, die Quellen zu nennen,
damit überprüft werden kann, ob bei den in Anspruch genommenen AutorInnen tatsächliche Beweise und Argumente stehen oder auch nur Behauptungen und Meinungen.
Daß das wichtig ist, zeigt ja bspw. mein gestern angeführtes Beispiel: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/02/das-vom-himmel-gefallene-humboldt-zitat/.
Eine Facebook-Nutzerin wandte gestern gegen meinen Text das kursiv Gesetzte ein; ich anwortete meinerseits mit dem in Normalschrift gesetzten:
Wenn die 30.000 eine politische Stellungnahme hätten abgegeben wollen, dann hätten sie mal etwas zur POLITIK von Guttenberg sagen und es unterlassen sollen, ihre politische Meinung dadurch abzustützen, daß sie darauf verweisen, daß sie selbst gerade eine Diss. schreiben.
Wenn die UnterzeichnerInnen die wissenschaftliche (Nicht-)Leistung von Guttenberg für ein relevantes politisches Argument halten, dann müssen sie es auch ertragen, daß ihre eigene „politische“ Stellungnahme an dem gleichen, strengen, wissenschaftlichen Kriterium gemessen wird, an dem sie selbst den POLITIKER Guttenberg messen.
Abgesehen davon, daß ich auch nichts dagegen hätte, wenn GenossInnen, die wegen Landfriedensbruch oder Mitgliedschaft in einer Terroristischen Vereinigung verurteilt wurden, MinisiterInnen würden, wenn sie denn die m.E. richtige Politik machen – um welche Strafrechtsvorschriften geht es denn Ihres Erachtens bei Guttenberg?
Die Überzeugungskraft einer Kritik hängt auch davon ab, ob sie sich denn an die zutreffenden AdressatInnen richtet. Für die Beurteilung der wissenschaftlichen Leistungen von Guttenberg war nun mal nicht die Bundeskanzlerin, sondern das deutsche Wissenschaftssystem zuständig.
Siehe auch noch:
taz: http://taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/herakles-jesus-guttenberg/
und
Zeit: http://www.zeit.de/2011/10/Aufstand-der-Wissenschaft
sowie dazu:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/03/weil-lesen-bilden-kann/.
Ja, natürlich, wenn es um ernsthafte Klärung von irgendeinem Sachverhalt geht, sei der wissenschaftlich, sei der politisch, dann ist es in der Tat wichtig, die benutzten Quellen zu nennen. Selbst dann ist es häufig immer noch schwer genug bis unmöglich, festzustellen, ob erstens die Zitierten auch nur das geschrieben haben, was ihnen zugeschrieben wurde, und häufig leider noch schwerer, zu prüfen, ob das überhaupt stimmt.
Gerade im Internet strotzen Artikel jeglicher Machart von Zitaten, die häufig noch nicht mal oberflächlichem Nachprüfen auch nur ein, zwei Ebenen tiefer Stand halten. Ich habe schon Fälle nachrecherchiert, wo Zeitungen gleich im Dutzend falsche Faktenbehauptungen voneinander abgeschrieben haben, die jedem Journalisten eigentlich genauso wie mir als Durchschnittsleser gleich als unplausibel hätten auffallen müssen.
Dann gibt es noch die Fälle, wo man im Nu in den unübersichtlichen Gefilden von vorsätzlicher politischer Lüge, schlampiger Belegarbeit, staatlicher Geheimniskrämerei usw. landet. Jeder, der nur ein einziges Verschwörungstheoriebuch mal nur ein paar Seiten gegen den Strich zu lesen bzw. rekonstruieren versucht hat, wird diese Erfahrung auch schon gemacht haben.
(Ich habe mal versucht, den Absturz der 11. September-Maschine audzudröseln, die spurlos im Boden verschwunden sein soll. Beim Ausgraben sollen weit über 1000 Menschen beteiligt gewesen sein. Als ich von keinem einzigen auch nur einen Blogkommentar oder ein Photo mit dem Triebwerk im Rücken oder ähnliche Schmankerln gefunden habe, habe ich aufgeben. Selbst so eine einfach erscheinende Frage, ob man damals aus einen Verkehrsflugzeug heraus telefonieren konnte, konnte zumindest ich persönlich nicht klären.)
Sehe ich genauso, dass meistens nicht ausreichend begründet wurde, warum die Fehler im Vorgehen seiner Doktorarbeit automatisch/zwangsweise seine politische Karriere betreffen die parallel und unabhängig dazu lief.
In Bezug auf die Erschleichung des Titels stehen hier einige strafrechtliche Anmerkungen der Tagesschau. http://www.tagesschau.de/inland/guttenberg808.html
@ Neoprene:
Ja.
Im Zusammenhang mit dem Buch, in dem ich diese Humboldt-Geschichte publiziert habe, könnte ich noch drei andere Geschichten erzählen:
Wir hatten natürlich auch nicht die Zeit und das Geld alle Text darauf hin überprüfen, ob sie Plagiate sind. Drei Sachen waren uns aber beim Lektorieren bzw. Übersetzen aufgefallen:
++ Ein Text mußten wir am Ende ganz rausschmeißen. Als Mit-HerausgeberIn hatte ich um bessere Belegung einiger Behauptungen und Einhaltung des Zitiersystems, das im Buch einheitlich angewendet werden sollte, gebeten. In der Diskussion mit der – bereits promovierten – Autorin stellte sich stufenweise heraus, das der eingereichte Text teils aus der Wikipedia übernommen war (wo er auch schon kaum oder keine Belege / Einzelnachweise hatte), eine Behauptung mit Verweis auf einen prominenten Autor ‚belegt‘ war (der das aber nicht geschrieben hatte; das, was dieser Autor tatsächlich schrieb, wurde dagegen ohne FN übernommen), und schließlich erwies sich der eingereichte Text als größernteils stark gerafft aus einer anderen Sprache ins Deutsche übersetzt.
(Das fiel mir dann nur auf, weil der Orginaltext zwei, drei Mal in den FN angeführt war und ich – mißtrauisch geworden – nachschlug, was da denn eigentlich steht.)
++ Ein anderer (nicht deutsch-sprachiger) Autor zitierte zwei deutsch-sprachige Autoren, die mir beide mit ihren Positionen so ungefähr bekannt waren. Das eine Zitat führte unser Aufsatz-Autor aus zweiter Hand (formell korrekt zitiert) von einem anderen Autor seiner Mitsprache an. Das Zitat des zweiten deutsch-sprachigen Autor stammte eh aus einer fremdsprachigen Publikation.
Also, ich wunderte mich zumindest, da mir das beides nicht so zu den mir bekannten Positionen der beiden Autoren zu passen schien und schlug das nach. Das zweite Zitat war zumindest ungenau; das erste Zitat verschob sich im Zuge der indirekten Zitierung doppelt und war am Ende mehr oder minder das Gegenteil des Originals.
Auf entsprechenden Hinweis korrigierte unser Aufsatz-Autor das dann anstandslos.
++ Ein dritter Autor (ebenso wie der zweite Lehrstuhlinhaber) machte ohne Quellenangabe eine Behauptung über die Zusammensetzung einer bestimmten politisch Bündnisstruktur, die aber logisch irgendwie nicht stimmig war / nicht zum Kontext paßte.
Wo er das her hatte, wußte er nicht mehr so genau, also habe ich das zusammen mit der Übersetzerin nachrechechiert. Das Ergebnis wurde dann auch anstandslos akzeptiert.
Aber kein Forschungsprojekt und keine Zeitschrift ist finanziell so ausgestattet, daß diese Arbeit systematisch für alle Publikationen gemacht werden könnte. Letztlich hängt es an Zufällen und an individueller Engagement, ob das auffällt und korrigiert wird.
(Daß zwei der drei genannten Beispiele Übersetzungen waren, dürfte dem deutschen Wissenschaftsbetrieb auch nicht zur Ehre gereichen. Da übersetzen schlicht ein viel intensiveres Lesen erfordert, als das Lektorieren von deutschsprachigen Texten – also im ersten Fall mehr auffällt.)
In meinem eigenen Text habe ich mich – glaube ich – auch mit ein paar Seitenzahlen vertan; müßte ich eigentlich mal ein Fehlerliste online stellen – was, ernsthaft betrieben, aber darauf hinauslaufen würde, alle tausend Seiten des mittlerweile gedruckten Buches zum x-mal konzentriert Korrektur zu lesen. -
Trotzdem kann ja aber die Schlußfolgerung daraus nicht sein: ‚Okay, lassen wir einfach die Fußnoten in Zukunft ganz weg und schreiben nur noch genialische Essays.‘
Siehe auch noch:
„Und jetzt bitte eine offizielle Entschuldigung an die Welt der Wissenschaft, Frau Merkel!“, Abschnitt „Gegen Bildungselitismus, für politische Kritik an Guttenberg und für Selbstkritik des Wissenschaftsbetriebs“:
http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Forum:Und_jetzt_bitte_eine_offizielle_Entschuldigung_an_die_Welt_der_Wissenschaft,_Frau_Merkel!#Gegen_Bildungselitismus.2C_f.C3.BCr_politische_Kritik_an_Guttenberg_und_f.C3.BCr_Selbstkritik_des_Wissenschaftsbetriebs
Dein Verweis MoreOrLess „In Bezug auf die Erschleichung des Titels stehen hier einige strafrechtliche Anmerkungen der Tagesschau. http://www.tagesschau.de/inland/guttenberg808.html“ ist selber ein schöner Beleg für flapsige Verweise. Denn wenn man den verwiesenen Tagesschau-Text liest, dann zerrinnen einem doch alle strafrecchtlichen Vorwürfe zwischen den Fingern:
1.Das Abkupfern müßten die „Beraubten“ geltend machen, was wohl
entfallen wird.
2. Untreue gibt es schon grundsätzlich so gut wie nie, hier auch nicht, weil es so schön heißt, nicht zur Hauptpflicht eines MdB gehört, mit den Geldern der Staatskasse haus zu halten.
3. Unbefufgtes Verwenden des Doktortitels kann man ihm auch nicht nachsagen, denn bis zu seiner „Rückgabe“ bzw. seiner Uni-Aberkennung war er ja nach allen Regeln der juristischen Kunst befugt.
Da wird Herr zu Guttenberg die Ermittlungen recht beruhigt aussitzen können, vermute ich als Nichtjurist jetzt einfach mal.
Dieser offene Brief ist doch nicht mehr als eine moralische Empörung über Guttenberg, getragen von der Überzeugung, derart unehrliche Leute dürften keine politischen Spitzenpositionen einnehmen. Mehr nicht, und mehr will er auch nicht sein. Ich finde es etwas absurd, da eine Befassung mit der Politik Guttenbergs oder eine grundsätzliche Kritik am Wissenschaftsbetrieb zu erwarten. (Da hätte man auch sicher keine Position gefunden, auf die sich die 30.000 hätten einigen können.) Ich sehe auch nicht, dass die Briefschreiber_innen behaupten, Politik und Wissenschaft würden oder sollten nach den gleichen Prinzipien funktionieren. Vollends absurd finde ich aber, den Brief selbst an wissenschaftlichen Maßstäben blamieren zu wollen, denn er erhebt ja gar nicht diesen Anspruch. Auch Doktorand_innen dürfen mal einen nichtwissenschaftlichen Text schreiben, oder?
Ach Unsinn. Der Brief wendet sich doch gar nicht gegen Politiker ohne akademische Titel, sondern nur gegen solche mit UNEHRLICH erworbenem. Warum ein Doktortitel in der Politik und vielen anderen Bereichen, die nicht nach wissenschaftlichen Prinzipien funktionieren, nach wie vor eine erhebliche Bedeutung hat, diese Frage stellt der Brief überhaupt nicht.
Zu deiner Sorge um die Demokratie und deine Verteidigung des „Elfenbeinturms“, also der klassischen Herrschaftsdienlichkeit von Wissenschaft qua Freiheit der Wissenschaft, gegen die neoliberale, direkte Herrschaftsdienlichkeit schreib ich mal nichts weiter.
@ Neoprene & MoreOrLess:
Ich kam selbst noch nicht dazu, mir den Tagesschau-link anzusehen. Aber was Neoprene schreibt, kommt mir vorderhand plausibel vor.
Zusätzlich sei noch erwähnt, daß Betrug ein Vermögensdelikt ist. Der Straftatbestand setzt u.a. voraus, daß „das Vermögen eines anderen dadurch [d.h.: durch die fragliche Handlung, TaP] beschädigt“ wird.
Da die fraglichen ErstautorInnen auch bei auch bei korrekter Zitierung keinen Honoraranspruch o.ä. gegen Guttenberg hätten, erlitten sie auch keinen Vermögensschaden dadurch, daß Guttenberg ihre ErstautorInnenschaft verschwieg.
Hinsichtlich der wohl – wenn ich das nebenbei richtig mitbekommen hatte – in Anspruch genommenen Arbeit des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag mag zunächst „Untreue“ in Betracht kommen, da dessen Arbeit nicht für Guttenbergs Abgeordenten-Tätigkeit, sondern für seine Diss. in Anspruch genommen wurde. Ob es sich aber bei der Inanspruchnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des BTages um eine „eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten,“ handelt, müßte zumindest genauer recherchiert werden – kommt mir jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich vor.
Punkt 3. von Neoprene scheint mir 100-prozentig zutreffend zu sein.
@ earendil:
Ja, aber das ist m.E. gerade der Mangel an dem Brief. Vgl. http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/12/01/sozialistischer-humanismus-autonomer-humanismus-oder-gar-kein-humanismus/.
Ja, aber für diese Überzeugung bringen sie kein einziges Argument vor – was aber im eigenen Interesse der AutorInnen wäre, falls sie so skeptische Wesen wie mich oder gar die Guttenberg-Fans überzeugen wollen.
Ja, aber das ist gerade die problematische Methode derartiger Briefschreiberei: Ich hatte mich hier ja schon mehrfach als vehemente VerteidigerIn von Bündnispolitik und Kompromissen geoutet, aber ich hatte auch immer dazugesagt: bei voller Wahrung der Freiheit der eigenen Agitation und Propaganda.1
Viel besser wäre gewesen, einen gemeinsamen Brief zu verfassen, der sich auf die schlichte Rücktrittsforderungen beschränkt (dann wäre ich sogar als 30.001. hinzugekommen) – und dann gibt es dazu je unterschiedliche individuelle oder fraktionelle Begründungen.
Das ist aber darin impliziert, daß sie ausdrücklich „als Doktorandinnen und Doktoranden“ zu einer politischen Frage Stellung nehmen und auch keine anderen Argumente als ein akademisches (zitieren ohne Quellenangabe ist unziemlich) haben.
Klar, aber dann sollten sie auch darauf verzichten, in diesem Zusammenhang ihre akademische Tätigkeit anzuführen – dann zählt schlicht ihr Argument in der Sache als jedermann, -frau, -sonstiges Wesen.
Okay, das finde ich einen halbwegs berechtigten Einwand. Du hast Recht, sie sagen nicht, daß sie prinzipiell etwas gegen Dr.-lose PolitikerInnen haben. Aber sie begründen auch nicht, warum die Unehrlichkeit im akademischen Feld (die dort zweifelsohne scharf zu kritisieren ist), auch im politischen Feld dermaßen wichtig ist.
Die relative Wichtigkeit von Ehrlichkeit im politischen Feld hatte ich ja in meiner FN 4 anerkannt. Und mit einer expliziten Argumentation, warum Guttenbergs Diss.-Schummelei auch im politischen Feld wichtig ist (die mögliche Argumentationslinie habe ich ja selbst angedeutet: „Daß die PolitikerInnen ehrlich über das, was sie tun und vorhaben, sind, ist die Minimalvoraussetzung begründeter Wahlentscheidungen und damit die Minimalvoraussetzung von – wie auch immer verstandener Demokratie.“ – Jetzt müßte nur noch dargelegt werden, inwiefern Guttenbergs Unehrlichkeit im akademischen Feld auch Indizwirkung für das politische Feld hat und über das hinausgeht, was im politischen Feld in Sachen Kundus usw. eh auf der Hand liegt.) wäre ich ja vielleicht sogar mitgegangen. Nur ist sie in dem Offenen Brief nicht erfolgt. Und bisher hat sie auch noch keineR meineR KritikerInnen nachgeliefert. Das ist der Punkt.
Nun ja, daß die Verteidigung des Elfenbeinturms offensiv-ironisch erfolgen solle, weil er eh keine Realität, sondern ein Pappkamerad ist, hatte ich ja geschrieben.
Mit der gebotenen Ironie möchte ich daran allerdings festen: Ja, der Elfenbeinturm war nie Realität und insofern magst Du mit Deiner Kritik „Herrschaftsdienlichkeit“ Recht haben.
Aber der Elfenbeinturm ist – ähnlich wie juristische Freiheit und Gleichheit – das bürgerliche Optimum, das unterhalb post-kapitalistischer Verhältnisse als anti-feudale Position zu haben ist.
Sicherlich: Der Elfenbeinturm bleibt – genauso wie juristische Freiheit und Gleichheit – von faktischen gesellschaftlichen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen affiziert – spätestens bei der Frage der Finanzierung von wissenschaftlicher Arbeit; und letzteres gilt auch noch in post-kapitalistischen Verhältnissen.
Aber diese indirekte Herrschaftsdienlichkeit ist der direkten allemal vorzuziehen. Und selbst in post-kapitalistischen Verhältnissen kann die Aufhebung der relativen Autonomie der wissenschaftlichen (entsprechend: der künstlerischen etc.) Praxen von der politischen Praxis nur in wissenschaftliche, ästhetische und politische Katastrophen wie dem Lyssenkismus (vgl. 1, 2, 3), dem Sozialistischen Realismus und dem Stalinismus münden.
Und @ Demokratie: Auch deren Vorteile (unterhalb kommunistischer Verhältnisse, die das Ende von Staat und damit auch Demokratie bedeuten) hatte ich hier schon öfters hervorgehoben und ausführlich begründet. Gerade weil dies also keine bloß „taktische“ Position in Sachen Guttenberg bzw. Kritik des Offenen Briefes ist, würde mich interessieren, worin Deine diesbzgl. Einwände gegen meine Sorge um Demokratie, selbst noch bürgerlich-parlamentarischer Demokratie mit all ihren Grenzen und Mängeln, besteht.
Noch mal zur Frage nach der strafrechtlichen Seite des Ganzen. Das Wichtigste scheint in der Tat bereits bei der tagesschau zu stehen. Auf die abwegige Frage nach einem Betrug im strafrechtlichen Sinne geht die tagesschau gar nicht erst ein.
I. Zum Urhebergesetz heißt es dort:
Ergänzend ist noch zu erwähnen, § 106 UrhG lautet:
Und § 109 UrhG lautet:
Falls tatsächlich, wie die tagesschau behauptet, das „öffentliche Interesse“ bisher an der Höhe des wirtschaftlichen Schadens festgemacht wurde, dürfte es kaum mit der gerade von Guttenberg-KritikerInnen geltend gemachten Gleichheit vor dem Gesetz vereinbar sein, nun den ad hoc den Begriff „öffentliche[s] Interesse“ anders auszulegen und gerade an ein in der Person Guttenbergs liegendes Kriterium, also bspw. seine politische Prominenz, anzuknüpfen.
Hinzukommt: § 15 I UrhG definiert die Verwertungsrechte wie folgt:
In den vorliegend einschlägigen §§ 16, 17 UrhG heißt es:
und
Daran ist jedenfalls schon mal auffällig, daß dort von der Vervielfältigung „des Werkes“, also vorderhand des kompletten Werkes, und nicht auch von der Vervielfältigung von Teilen des Werkes die Rede ist. Ich habe allerdings keine Zeit und Lust, in die wissenschaftliche Literatur einzusteigen, um zu recherchieren, ob sich aus gesetzessystematischen Gesichtspunkten oder Gesichtspunkten der Gesetzgebungsgeschichte etwas anderes ergibt.
Jedenfalls ist auch § 51 UrhG in dieser Hinsicht nicht eindeutig. Dort heißt es:
Dort wird zwar in Satz 2 ausdrücklich gesagt, daß die Anführung von „Stellen eines Werkes“ zulässig ist. Es ergibt sich aber aus dem Wortlaut nicht eindeutig, ob dies als Ausnahme von einem im weiten Sinne zu verstehenden Verbotes der „Vervielfältigung des Werkes“ zu verstehen ist, oder ob § 51 Satz 2 Nr. 2 und 3 – anders wohl als § 51 Satz 2 Nr. 1 hinsichtlich des mit Erläuterungen versehenen Komplett-Zitates – bloß deklaratorisch-klarstellende Funktion im Verhältnis zu einem ohnehin eng zu verstehenden Begriff von „Vervielfältigung des Werkes“ hat.
Schließlich ließe sich wahrscheinlich auch noch diskutieren, ob die zum Teil ja ausgesprochen banalen Sätze, die von Guttenberg abgeschrieben bzw. leicht umformuliert wurden, überhaupt unter die Begriffe „Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst“ (§ 1 UrhG), „Urheber“ und „Schöpfer“ (§ 7 UrhG) fallen, bzw., ob Guttenbergs Umformulierungen unter den Begriff der „Freie Benutzung“ (§ 24 UrhG) fallen.
II. Zum Vorwurf der Untreue heißt es auf der Seite der tagesschau:
III. Schließlich wurd dort Frage eines etwaigen Titelmißbrauchs ausgeführt: