Wie das Bundesverfassungsgericht das Rechtsstaatsprinzip erfand
Anfangs hatte auch das Bundesverfassungsgericht deutlich benannt, daß ein Rechtsstaatsprinzip nicht Bestandteil der geschriebenen Verfassung ist – allerdings ein solches dennoch bereits damals seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt: „Das Verfassungsrecht besteht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung, sondern auch aus gewissen […] Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber […] nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat. Zu diesen“ – d.h.: den ungeschriebenen! – „Leitideen gehört, […], das Rechtsstaatsprinzip.“ (BVerfG 2, 380-406 [381] – Haftentschädigung).
Zur Begründung schreibt das Gericht: Der Verfassungsgeber sei von einem „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild […] ausgegangen“, das wiederum von „Grundsätzen und Leitideen“ wie dem Rechtsstaatsprinzip „geprägt“ worden sei (ebd.). Die Herleitung dieser Auffassung bleibt ungeklärt, denn es werden weder Materialien aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates noch sonstige Äußerungen von Mitgliedern des Rates, bspw. in der Presse oder in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zitiert. Wie anders ließe sich aber klären, wovon der Verfassungsgeber ausgegangen ist?! Das BVerfG bekräftigt lediglich, daß das Rechtsstaatsprinzip zu diesen Leitideen gehöre, ergebe „sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der Einzelgewalten und der Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes.“
Dies ist aber nur die eigene Auffassung des BVerfG. Dafür, daß auch der Verfassungsgesetzgeber – wie das BVerfG behauptet1 – von dieser Auffassung ausgegangen ist, führt das Gericht weder ein Argument noch einen Anhaltspunkt an. Warum soll der Grundgesetzgeber ein ‚Prinzip’ gemeint haben, obwohl er konkrete Normen statuiert hat? Allenfalls die Alliierten hätten ihn hindern können, bspw. in Art. 20 I GG zu formulieren, ‚Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechts- und Bundesstaat.“, oder in Art. 20 II 2 GG zu schreiben: „Sie [die Staatsgewalt] wird […] unter Beachtung des Rechtsstaatsprinzips [oder der Grundsätze des Rechtsstaats o.ä.] ausgeübt.“ Beides ist nicht geschehen.
Im übrigen zeugt der zitierte Satz des BVerfG über die „Leitideen“ etc. von argumentativer Konfusion: Die verwendeten Begriffe werden nicht definiert; warum das eine (Prinzipien) aus dem anderen (Grundsätze und Leitideen) und nicht das andere (Grundsätze) aus dem einen (Prinzipien) folgen soll, wird nicht begründet; ob das BVerfG deduktiv, induktiv oder noch anders argumentiert, bleibt unklar.
Ø Zur Erinnerung – das BVerfG sagt: „Das Verfassungsrecht besteht […] auch aus gewissen […] Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber […] nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat. Zu diesen Leitideen gehört, […], das Rechtsstaatsprinzip.“ Das BVerfG scheint hier – deduktiv – von der Existenz der „Grundsätze und Leitideen“ auf die Existenz des „Rechtsstaatsprinzip“ zu schlußfolgern. Danach müßten das „Rechtsstaatsprinzip“ und andere ‚Prinzipien’ ein Unterfall der „Grundsätze und Leitideen“ aus dem ersten Satz sein; die Prinzipien müßten sich vielleicht sogar logisch aus den „Grundsätzen und Leitideen“ ableiten lassen. Welches Deduktionsverhältnis zwischen „Grundsätze und Leitideen“ einerseits und „Prinzipien“ andererseits bestehen sollen, erklärt das BVerfG aber nicht – weder auf kategorialer Ebene (Warum sind „Grundsätze und Leitideen“ ein Oberbegriff und ‚Prinzipien’ etwas Konkreteres?) noch auf inhaltlicher Ebene (Inwiefern ergibt sich der rechtsstaatliche Inhalt der ‚Prinzipien’ aus den Inhalten der „Grundsätze und Leitideen“?).
Ø Vielleicht ist der Satz ja auch umgekehrt gemeint: Vielleicht will das BVerfG aus den – nicht näher erläuterten –„Grundsätzen und Leitideen“ gar nicht das Rechtsstaatsprinzip ableiten. Vielleicht ist das BVerfG ja vielmehr – aus ebenfalls ungenannten Gründen – der Ansicht, daß das „Rechtsstaatsprinzip“ im Bewußtsein des Parlamentarischen Rates existierte und dieser es normieren wollte, obwohl er es nicht normiert hat – und das BVerfG leitet aus diesem (und anderen ungeschriebenen) Prinzipien induktiv seine „Grundsätze und Leitideen“ ab2?! Aber warum werden dann die „Grundsätze und Leitideen“ überhaupt erwähnt, wo doch im Zusammenhang des Urteils schon das „Rechtsstaatsprinzip“ alleine ausreichend gewesen wäre? – Die Konfusion wird nur noch größer.
Ø Oder handelt es sich um eine schlicht Tautologie (Prinzipien = Leitideen und Grundsätze)?! Behauptung: ‚Das Verfassungsrecht besteht aus Prinzipien, z.B. dem Rechtsstaatsprinzip.’ Beweis: ‚Das Verfassungsrecht besteht aus Grundsätzen und Leitideen.’
Ø Des weiteren behauptet das BVerfG, daß das Rechtsstaatsprinzip zu jenen Leitideen gehöre, ergebe „sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der Einzelgewalten und der Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4, 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes.“ Daß sich ein „Rechtsstaatsprinzip“ in der geschriebenen Verfassung nicht befindet, also auch nicht in den vier fraglichen Normen, gibt das BVerfG selbst zu. (Das BVerfG sagt, daß es sich beim „Rechtsstaatsprinzip“ um etwas handelt, das „nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert“ wurde.) Wenn die „Zusammenschau“ der vier Normen dennoch ein „Rechtsstaatsprinzip“ ergeben soll, dann müßte diese „Zusammenschau“ mehr als die Summe der Teile ergeben.3 Wie diese wundersame Vermehrungs-„Zusammenschau“ funktioniert, verrät uns das BVerfG aber nicht, und ist auch nicht ersichtlich.4
Ø Außerdem: In welchem Verhältnis stehen die „Zusammenschau“ dieser vier Vorschriften und die vom BVerfG ebenfalls in Bezug genommene „Gesamtkonzeption“ des Grundgesetzes5? Wie wird/wurde diese „Gesamtkonzeption“ ermittelt? Auch dazu steht nichts in den Urteilsgründen: Kein Argument, kein Indiz; nicht einmal ein Literaturhinweis (wer/welche es nicht glaubt, nehme Bd. 2 der BVerfG-Entscheidungen noch einmal zur Hand). Welches zusätzliche Argument soll sich aus dieser „Gesamtkonzeption“ ergeben, das sich nicht auch bereits aus der „Zusammenschau“ der vier ausdrücklich in dem Urteil genannten Vorschriften ergeben soll? Warum wird die „Gesamtkonzeption“ überhaupt neben („sowie“) der „Zusammenschau“ genannt? Weil dem BVerfG bewußt ist, daß „Zusammenschau“ eine etwas merkwürdige Methode ist? Aber ermittelt es die von ihm behauptete „Gesamtkonzeption“ mit einer besseren Methode? Wir wissen es nicht, denn das BVerfG schweigt auch zu der Frage, mit welcher/n Methode/n es die „Gesamtkonzeption“ festgestellt hat. Das BVerfG sagt uns nicht einmal, was diese Gesamtkonzeption – außer der Rechtsstaatlichkeit – ausmacht.
Ø Und schließlich: Was unterscheidet die vom BVerfG angeführten „Grundsätze“ von den ebenfalls vom BVerfG angeführten „Leitideen“6? Soll sich das „Rechtsstaatsprinzip“ aus den „Grundsätzen“ oder aus den „Leitideen“ oder aus beiden gleichzeitig (in welchem Mischungsverhältnis?) ergeben? Und was unterscheidet eigentlich ein Prinzip, das sich aus den Grundsätzen und Leitideen ergeben soll, von diesen Grundsätzen und Leitideen? Sind nicht ein Grundsatz und ein Prinzip ein und dasselbe?
Aber damit nicht genug: „Das Rechtsstaatsprinzip enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung der Rechtssicherheit“ (403). Wir müssen gestehen, daß wir dieses Argument nicht unsympathisch finden; Rechtssicherheit ist wichtig. Aber ist die vorhergehende Argumentation des BVerfG mit vagen Prinzipien und Leitideen nicht ein einziger Hohn auf die Rechtssicherheit? Und ergibt sich aus den vom BVerfG ‚zusammengeschauten’ Normen – wenn sich aus ihnen für den vorliegenden Fall7 überhaupt etwas ergibt – nicht eher das Gegenteil? Legen nicht die Bindungsvorschriften der Art. 1 III und 20 III GG eher nahe, daß unbedingt die „richtige“ – nämlich „Gesetz und Recht“ und insbesondere den Grundrechten entsprechende – Entscheidung getroffen werden muß; sowie aus Art. 19 IV GG, daß ein Rechtsweg zur Verfügung stehen muß – auch wenn die Rechtssicherheit im Einzelfall darunter (über längere Zeit) leidet; wenn längere Zeit keine endgültige Entscheidung feststeht, sondern eine (vorläufige) Entscheidung im Interesse der verfassungsrechtlichen Richtigkeit auch noch spät revidiert werden kann? (Wenn das BVerfG den Niederschlag einer „Leitidee“ „Rechtssicherheit“ hätte finden wollen, hätte es eher in den Art. 80 I 2 und 103 II GG suchen müssen, auch wenn diese Vorschriften nicht falleinschlägig sind. Immerhin hätte sich das Hantieren mit ‚Prinzipien’ dann nicht völlig vom Text des GG abgelöst.)
So zeigt sich, daß die vom BVerfG angeführten Normen für das Ergebnis, zu dem das Gericht kommt, völlig irrelevant sind (die angeführten Normen stehen der Rechtssicherheit eher entgegen, als daß sie sie betonen). Die Normen, die in die Richtung des Ergebnisses weisen könnten, werden nicht zitiert; die Normen, die zitiert werden, weisen eher in die gegenteilige Richtung.
Quelle:
Die ersten vier Absätze stammen aus meinem Aufsatz:
Rechtsstaat versus Demokratie. Ein diskursanalytischer Angriff auf das Heiligste der Deutschen Staatsrechtslehre, in: Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deut-schen und spanischen Weg in die Moderne (StaR P. Neue Analyen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Bd. 2), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 553 – 628 (595 f.).
Die folgenden Absätze hatte ich damals aus Platzgründen gekürzt.
- Der Verfassungsgeber sei von einem „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild […] ausgegangen“, das wiederum von „Grundsätzen und Leitideen“ wie dem Rechtsstaatsprinzip „geprägt“ worden sei. [zurück]
- Der Passage könnte dann lauten: „Das Verfassungsrecht besteht u.a. aus dem Rechtsstaatsprinzip, obwohl es der Verfassungsgesetzgeber nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat. Dies erlaubt die Schlußfolgerung, daß das Verfassungsrecht auch aus gewissen […] Grundsätzen und Leitideen besteht, von denen das Rechtsstaatsprinzip ein Teil ist.“ Eine Begründung für den ersten Satz bliebe das BVerfG aber auch dann schuldig. [zurück]
- Nach den Gesetzen der Logik ist: Kein Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 III + kein Rechtsstaatsprinzip in Art. 1 III + kein Rechtsstaatsprinzip in Art. 19 IV + kein Rechtsstaatsprinzip in Art. 28 I 1 GG ist immer noch kein Rechtsstaatsprinzip. Die „Zusammenschau“ des BVerfG ergibt aber dennoch ein Rechtsstaatsprinzip. [zurück]
- S. gegen – das Verfassungsrecht vermehrendes – Deduzieren aus ‚Prinzipien’ auch Kunig 1986, 87: „Als wesentlich ist […] zu betonen, daß solche Prinzipien geschriebenem Recht nicht zuwiderlaufen dürfen, was bereits dagegen spricht, aus ihnen zu deduzieren“ (Hv. d. Vf.In). Sie seien – wenn sie denn überhaupt akzeptierbar sind – „aus geschriebenem Recht ‚zusammengesetzt’“, aber nicht selbst Rechtsquelle. Die ‚Zusammensetzung’ (Zusammenfügung) von vier Artikeln, die kein Rechtsstaatsprinzip enthalten, ist also – wie in vorstehender FN dargelegt – immer noch kein Rechtsstaatsprinzip, aus dem etwas deduziert werden könnte, was in diesen vier Artikeln nicht enthalten ist. [zurück]
- Das BVerfG sagt, daß das Rechtsstaatsprinzip zu diesen Leitideen gehöre, ergebe „sich aus einer Zusammenschau“ der vier fragliche Bestimmungen „sowie der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes“. [zurück]
- Das BVerfG sagt, daß GG bestehe aus „Grundsätzen und Leitideen“. Was unterscheidet das eine von dem anderen? Warum verwendet das BVerfG beide Begriffe? [zurück]
- ´Das BVerfG hatte zu entscheiden, ob die – vom Gesetzgeber geschaffene – Möglichkeit, bestimmte, (wegen Nicht-Erhebung oder nicht rechtzeitiger Erhebung von Rechtsmitteln) formell rechtskräftig gewordene Haftentschädigungsbeschlüsse nachträglich zu Lasten von EntschädigungsempfängerInnen zu beanstanden (BVerfGE 2, 380-406 [404] – Haftentschädigung), mit dem Grundgesetz vereinbar war. Das BVerfG hatte diese Frage unter Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip, das es in der im Haupttext erörterten Weise herleitete, verneint. Ein bloßer „Wandel der Rechtsauffassung“, also vermeintlich bessere Rechtserkenntnis als im Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung, sei kein hinreichender Grund um „dem Einzelnen aufgrund eines abgeschlossenen Tatbestandes vorbehaltlos [verliehene …] Rechtsposition“ wieder zu entziehen (ebd., 381).
Von den vier vom BVerfG in diesem Zusammenhang erörterten Grundgesetz-Artikeln (1 III, 19 IV, 20 III, 28 I 1 GG) waren allenfalls zwei für die Beantwortung dieser Frage einschlägig:
Art. 1 III GG, der die unmittelbare Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte vorschreibt, gibt für die Beantwortung dieser Frage nichts her. Denn den Grundrechten läßt sich keine Antwort auf die Frage entnehmen, unter welchen Bedingungen der Staat Haftentschädigungen zu zahlen hat. Art. 19 IV gewährt den BürgerInnen eine Rechtsweggarantie. Im vorliegenden Fall ging es aber nicht darum, daß einE BürgerIn eine Haftentschädigungsentscheidung (nachträglich) anfechten wollte, sondern der Staat wollte sie nachträglich ändern. Entscheidungserheblich waren also allenfalls die Art. 20 III und 28 I 1 GG:
Art. 20 III GG statuiert die Gesetzesbindung der Verwaltung. Ein Hindernis eine vermeintlich gesetzwidrige Entscheidung nachträglich der vermeintlich tatsächlichen Gesetzeslage anzupassen, folgt daraus nicht. Die einzige Frage, die sich insoweit stellt, ist, ob die erste oder die zweite Rechtsauffassung die tatsächlich zutreffende Rechtsauffassung ist. Darüber hinaus stellt sich die (im Ergebnis zu verneinende) Frage, ob der Gesetzgeber durch Art. 20 III GG gehindert ist, gesetzwidrige Entscheidungen durch Statuierung von Rechtsmittelfristen und eines bestimmten Instanzenzuges verbindlich werden zu lassen. Aber diese Frage ist das genaue Gegenteil der Frage, die das BVerfG damals zu entscheiden hatte.
Schließlich stellt sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 28 I 1 GG die Frage, ob das GG irgendeine andere (rechtsstaatliche) Norm enthält, die der nachträglichen Änderung einer gesetzwidrigen Entscheidung Grenzen setzt. In Betracht käme allenfalls, aus Art. 80 I 2 und 103 II GG ein „Prinzip“ der Rechtssicherheit abzuleiten und aus diesem wiederum ein Gebote, bestimmte gesetzwidrige Entscheidungen unter bestimmten Bedingungen bestandsfest werden zu lassen, zu deduzieren. Dieses Vorgehen wäre allerdings nur geringfügig wortlauter-näher als Vorgehen des BVerfG und ist daher genauso zu verwerfen.
Ergebnis: Mag auch die fragliche gesetzliche Regelung schlecht zu anderen gesetzlichen Regelungen passen (ebd., 404) und mag sie auch politisch kritisierenswert sein; grundgesetzwidrig war sie nicht. [zurück]
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