Aus gegebenem Anlaß, Endnote 1 aus http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-70305:
Früher wurde die Kritik an der angeblichen ‚Praxisferne‘ der Theorie und der Abstraktheit der Wissenschaften, am analytischen, d.h. zerlegenden, Denken – zumindest von denjenigen, die diese Kritik damals geführt hatten – als ‚links‘ und ‚emanzipatorisch‘ verstanden (s. unten die Bemerkungen zum Hegel-Marxismus und der Frankfurter Schule sowie Schöttler 1988a, 176 mit FN 101 zur ‚emanzipatorischen Geschichtswissenschaft‘). Wie diese Position mittlerweile von der neo-liberalen ‚Neuen Mitte‘ assimilierte wurde, deren Hauptsorge ist, dem Diktat ‚des Marktes‘ zu folgen, zeigt bspw. eine Rede der seinerzeitigen bayerischen SPD-Landtagsfraktions-Vorsitzenden und jetzigen Bundesfrauenministerin, Renate Schmidt, die sie 1997 im Bayerischen Landtag unter dem Titel „Den ‚Rohstoff Geist‘ veredeln!“ 1997 gehalten hat. In einer Zwischenüberschrift postuliert sie: „An einem ganzheitlichen Bildungswesen arbeiten!“ Dabei gehe es um ‚Interdisziplinarität‘ und die „Verzahnung [des Bildungswesens] mit der Technologie-, Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, also um jene Felder, auf denen sich das Schicksal des Standorts Deutschland und seiner Menschen entscheiden wird. […]. Dafür ist es notwendig, Barrieren und Berührungsängste zwischen Theorie und Praxis, zwischen den Bildungseinrichtungen und der Wirtschaft abzubauen.“ (Hv. d. Vf.In) Ein Interview mit dem Physiknobelpreisträger Gerd Binnig zitierend treibt sie die Verneinung der theoretischen Praxis weiter: „Die Universität ist darauf ausgerichtet, die Welt zu verstehen. Mich hat es immer fasziniert, die Welt zu gestalten. Darauf wird an der Uni weniger Wert gelegt.“ „Es gibt selbst innerhalb der Universität eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Theoretische Physiker sagen über Experimentalphysiker: Ja, was verstehen die schon von der Physik, die drehen nur am Knöpfchen. Die Experimentalphysiker wiederum glauben zum Teil, sie könnten nichts von der Industrie lernen. Unterschiedliche Disziplinen reden immer noch sehr zögerlich miteinander.“ Daraus schlußfolgert Schmidt um „im globalen Wettbewerb [zu] bestehen“, müssen „wir […] die Kluft zwischen Elfenbeinturm [!] und Fließband überwinden. Nur dann werden wir wieder in der Lage sein, hervorragende Forschung in ebenso hervorragende und marktfähige [!] Produkte umzusetzen.“ Dafür „brauchen [wir …] Durchlässigkeit und Gemeinsamkeit.“ „Auch wenn manche mit diesem Begriff Probleme haben mögen, unsere Hochschulen sind Dienstleistungsunternehmen. Sie müssen ihr Angebot der Nachfrage anpassen […].“ „Deshalb treten wir für ein Höchstmaß an Autonomie und auch Wettbewerb ein. Die Hochschule als Unternehmergemeinschaft [!] wird für die nötige Transparenz sorgen, mangelnde Unterrichtsleistung nicht dulden und als ‚Rendite‘ [!] hervorragend ausgebildete Absolventen haben.“ Deshalb „geht [es] nicht an, daß es mehr Altphilologen […] gibt als Japaneologen, Sinologen und Indologen. Wir brauchen Fachleute, die die ganze Welt begreifen und müssen uns diesen Herausforderungen stellen.“ Denn letztere benötigen „wir“, um im – von Samuel P. Huntington und mit ihm von Renate Schmidt beschworenen – „Kampf der Kulturen“ keine Machtverluste zu erleiden, und damit Länder, die jetzt noch Peripherie sind, nicht zu „Hauptakteur[en] der Weltpolitik“ werden. Renate Schmidt fragt: „In welcher Weise sind wir denn auf eine solche Entwicklung geistig vorbereitet? Wer, wenn nicht an vorderster Stelle die Wissenschaft, kann hier einen entscheidenden Beitrag leisten? Welche Rolle spielen derartige Überlegungen eigentlich an unseren Hochschulen?“ Wissenschaft soll laut Schmidt nicht analysieren, sondern nützlich sein für die Verteidigung des ‚Modell Deutschlands‘. Deshalb ist ‚Praxisorientierung‘ auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften gefordert, zwar nicht direkt bezogen auf ‚die Wirtschaft‘ (das wäre vielleicht auch dysfunktional), wohl aber auf den Staat bezogen. Denn auch deren Aufgabe hat nicht Analyse (‚die Welt verstehen‘), sondern ‚Praxis‘ (als ob analysieren keine Praxis ist) – ‚Wertevermittlung‘ – zu sein: „Dennoch, bei aller Notwendigkeit von Forschung und der Anwendung neuer Technologien hat die Politik dafür zu sorgen, daß Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften nicht unter den Tisch fallen. Gerade die heutige Zeit würde ohne sie und die von ihnen vermittelten Werte Gefahr laufen, unsere Demokratie, unser Gemeinwesen zu gefährden.“ (Schmidt 1997 – alle Hv. + Anm. d. Vf.In). –
Sollten ‚sie‘ (d.h. jenes „wir“, das Schmidts Rede spricht) tatsächlich auf jede Theorie verzichten oder sich mit den HandwerkerInnen-Theorien der ‚PraktikerInnen‘ bescheiden (was aber vollständig und dauerhaft auch nicht so wahrscheinlich ist) wird ihren Plänen allerdings nicht allzuviel Erfolg beschieden sein. Denn jede HandwerkerInnen-Theorie kommt früher oder später an ihre Grenze – nämlich, wenn sie auf Probleme stößt, die sie aufgrund ihres Verzichts auf Wissenschaftlichkeit nicht lösen kann (s. bspw. den Zusammenbruch der Lyssenkoschen „Proletarischen Wissenschaft“ in der Sowjetunion: „Die Techniker der Landwirtschaft hatten Lyssenko zum Sieg verholfen: gestützt auf die wenigen spektakulären Erfolge, die er in der Agronomie erringen konnte, hatte er sich einen Namen gemacht; […]. Und dies war auch der Ort, wo sich mit der Zeit sein Abstieg abzeichnete: als die haarsträubenden Anwendungen der neuen Vererbungstheorie zu spektakulären Fehlschlägen geführt hatten, die sich nicht länger verbergen ließen.“ [Lecourt 1976, 143]). ‚Die Praxis‘ mag sich dann zwar noch lange durchwurschteln können, ohne Kritik (d.h. ohne „reflektierte[s] Verhältnis“ zu ihrer Theorie, s. Endnote 5) bleibt sie aber „– ob sie es will oder nicht – den Wirkungen ihrer Ursachen ausgeliefert“ (Lecourt 1976, 148), d.h. sie gerät in eine Krise, die zu ihrem Zusammenbruch führen kann, falls es nicht zu einem theoretischen Einschnitt kommt, der den tatsächlichen Ursachen Rechnung trägt.
Literatur:
Dominique Lecourt, Proletarische Wissenschaft? Der „Fall Lyssenko“ und der Lyssenkismus (Reihe Positionen Band 1 hrsg. von Peter Schöttler), VSA: [West]berlin, 1976 (frz. Originalausgabe: Maspero, Paris, 1976).
Renate Schmidt, Den ‚Rohstoff Geist‘ veredeln! Rede […] zur Regierungserklärung ‚Hochschulstrukturreform‘ am 29. Januar 1997 im Bayerischen Landtag, ehemals im Internet unter: http://www.spd.bayern.landtag.de/html/positionen/Bildung/info290197d.htm (der link funktioniert nicht mehr; die mündliche Fassung der Rede ist mittlerweile im Plenarprotokoll 13/70 vom 29.01.1997 der 13. Wahlperiode des Bayerischer Land-tag, S. 5063-5071 veröffentlicht).
Peter Schöttler, Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse, in: Jürgen Fohrmann / Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1988, 159-199 (= Peter Schöttler, Historians and Discourse Analysis, in: History Workshop. A journal of socialist and feminist historians [London], Spring 1989, 37-65).
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