- aus einer Facebook-Diskussion -
zu http://www.fr-online.de/politik/-wichtig-fuer-die-moral-/-/1472596/7508972/-/index.html (Interview mit dem „Moral-Experte[n] Richard David Precht“)
Theorie Als Praxis: Wo liegt denn nun das Argument in diesem Text?
„Es gibt ausgesprochene und manchmal unausgesprochene Anstandsregeln der Politik, die man unter anderem daran ablesen kann, aus welchen Gründen in Deutschland Minister zurücktreten mussten. Ich denke an Jürgen Möllemann, der wegen eines Empfehlungsschreibens für Plastikchips in Einkaufswagen zurückgetreten war. Und wenn jetzt ein viel gravierenderer Verstoß gegen die guten Sitten und das Recht nicht geahndet wird, dann verschiebt sich die Grenze dessen, was man für NORMAL hält. Kanzlerin Merkels Hinweis, sie habe keinen wissenschaftlichen Assistenten eingestellt, bedeutet also, sie beurteilt NICHT MEHR DIE GANZE PERSON, sondern nur noch eine Einzelqualifikation. Das aber öffnet der Unmoral Tür und Tor. Angela Merkel hat damit den Versuch unternommen, eine moralische Grenze deutlich zu verschieben. Und es ist gut, dass das nicht ungeahndet geblieben ist.“
-- Ist „normal“ ein Argument? Ist das, was normal ist, auch das Gute?
-- Ist „Moral“ und „Unmoral“ etwas Eindeutiges.? Nein, Precht müßte überhaupt erst einmal seinen Verständnis von Moral und Unmoral explizieren und begründen – und dann könnte diskutiert werden, wie gemessen daran der Fall Guttenberg zu beurteilen ist.
-- Recht hat Precht aber mit: „Sie hat dem Druck der öffentlichen Meinung nachgegeben, insbesondere dem Druck, der von der Intelligenz kam, aus den Universitäten und der Wissenschaft.“ – Aber das ist genau das Problem an der ganzen der Geschichte, ein akademischer Abschluß ist KEIN politisches Argument:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/03/weil-lesen-bilden-kann/
und
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/01/nach-dem-abgang-des-symptoms-eine-offenherzige-antwort-an-30-000-dt-akademikerinnen/
Theorie Als Praxis: “Was spricht eigentlich gegen Moral, ethische Begriffe, Humanität usw.?“
http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/12/01/sozialistischer-humanismus-autonomer-humanismus-oder-gar-kein-humanismus/
userin 1, die FR-Interview verlinkte: sorry, aber eure Fragen sind teilweise einfach dumm, indem sie versuchen zu negieren, dass es so etwas wie gesellschaftlichen Konsens gibt. Was als „normal“ erachtet wird, verschiebt sich innerhalb einer Gesellschaft auf der Zeitschiene – trotzdem gibt es immer einen Konsens darüber, welches Spektrum gerade als normal betrachtet wird. Durch besonders gravierende Ereignisse (oder erfolgreiche Tabubrüche) kann „normal“ auch mal schneller als im Lauf der Zeit verschoben werden – was dem Zusammenleben der Gesellschaft nicht unbedingt hilft, trotzdem manchmal wichtig sein kann. Ihr wollt aber jetzt nicht behaupten, dass die Aufnahme von Betrügen, Täuschen und Lügen ins „Normale“ wichtig wäre?
Theorie Als Praxis: Nein, letzteres selbstverständlich nicht.
Aber:
-- Es muß doch mal gefragt werden, ob Guttenbergs Politik oder vielmehr – wie viele zu meinen scheinen – seine Abschreiberei bei seiner Diss. politisch kritisierenswerter ist.
-- Und eine autoritäre Berufung auf inhaltlich nicht ausgewiesene Normalität oder Moral wird doch als METHODE nicht deshalb richtig, weil sie in einem Einzelfall angewendet wird, wo es vielleicht durchaus möglich wäre, Argumente zu nennen. – Nur macht das Precht nicht. Precht stellt sich als Moral-EXPERTE hin und behauptet irgendetwas, sei unmoralisch.
-- Die Methode, Behauptungen als selbstverständlich oder unter Verweis auf Experten-Status der Diskussion zu entziehen, muß doch unabhängig davon kritisiert werden, ob einem/r Guttenberg nun sympathisch ist oder nicht / politisch nahesteht oder nicht.
user 2: Natürlich ist ein akademischer Titel kein politisches Argument. Von den Kritikern kann auch keiner etwas dagegen haben, wenn ein Mitglied der Regierung kein Akademiker ist. Diesen Zusammenhang haben auch nicht die Kritiker, sondern Frau Merkel und der Boulevard hervorgebracht.
Dies war auch nie der Punkt der Kritik. Guttenberg hat fortgesetzt gelogen, betrogen, Informationen zurückgehalten, falsch informiert und stets andere geopfert, wenn der Druck auf ihn – aufgrund eigener politischer Fehlleistungen – zu groß wurde. Für einen Minister, einen Adeligen zumal, dürfen keine anderen Maßstäbe gelten, als für jeden anderen sonst auch.
Theorie Als Praxis: Ja, aber es sagt doch etwas über die ent-politisierende Wirkung derartiger personalisierender Skandal-Diskussionen aus, wenn nicht die Regierung wegen ihrer hoch offiziellen und allgemein bekannten Kriegs- und sonstigen Politik gestürzt wird, wenn Guttenberg nicht einmal wegen seiner Informationspolitik zu Kundus usw., sondern wegen dieser akademischen Angelegenheit gestürzt wird.
Und:
Die (wissenschaftlichen) Maßstäben sind ja im allgemeinen gar nicht so streng (was selbstverständlich kritisierenswert ist), wie jetzt im Fall von Guttenberg getan wird.
DIESE tatsächliche Doppelmoral (und vielleicht auch jene Verschiebung – aber das wohl weniger) bringt den Boulevard so gegen die Guttenberg-KritikerInnen auf.
Siehe auch noch:
„Und jetzt bitte eine offizielle Entschuldigung an die Welt der Wissenschaft, Frau Merkel!“,
Abschnitt „Gegen Bildungselitismus, für politische Kritik an Guttenberg und für Selbstkritik des Wissenschaftsbetriebs“:
http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Forum:Und_jetzt_bitte_eine_offizielle_Entschuldigung_an_die_Welt_der_Wissenschaft,_Frau_Merkel!#Gegen_Bildungselitismus.2C_f.C3.BCr_politische_Kritik_an_Guttenberg_und_f.C3.BCr_Selbstkritik_des_Wissenschaftsbetriebs
userin 3: @Theorie: die gefälschte Doktorarbeit war keine Lappalie und auch keine Nebensache. Außerdem warte ich immer noch auf eine Aufarbeitung der Kundus und Gorch-Fock Affäre! Hier ging es nämlich um militärische Fehlentscheidungen die Menschenleben forderten! Guttenberg hat es immer wieder geschafft sich aus den Affären heraus zu ziehen indem er sie auf die lange Bank schob. Im geheimen dachte er, dass die Leute es mit der Zeit vergessen werden! Auch er wollte dem Volk ein „Dummheits-Koeffizient“ zuschreiben. Mit seiner geklauten bzw. gekauften Dr. Arbeit war dann aber Schluss!
vor 6 Stunden · Gefällt mir · 2 Personen
user 4: Was ist Moral? Gesellschaftlicher Konsens oder aber eine tief im Menschlichen verwurzelte Größe, deren Wert, Relevanz und Haltbarkeit zwar nicht wirklich zur Disposition stehen, sehr wohl aber durch die täglichen Ereignisse, den sogenannten Zeitgeist oder durch methodische Unterwanderung ausgehöhlt und abgeschliffen werden, um nachträglich in apologistischer Absicht in ihrer atrophierten Form zum Konsens stilisiert zu werden?
Theorie Als Praxis: „die gefälschte Doktorarbeit war keine Lappalie und auch keine Nebensache.“
Ja, wissenschaftlich war es kein Lappalie – verglichen mit der in fast aller Offenherzigkeit vertretenen offiziellen Regierungspolitik schon.
„Außerdem WARTE ich immer noch auf eine Aufarbeitung der Kundus und Gorch-Fock Affäre!“
Diese Themen dürften allerdings FAKTISCH mit dem Rücktritt Guttenbergs entweder endgültig vom Tisch sein oder aber – mit derselben zynischen Logik, mit der der Westen mit Militärdiktatoren wie Pinochet abrechnet, NACHDEM sie ihre pro-westliche Schuldigkeit getan haben – erfolgen, was auch nicht besser wäre.
„Guttenberg hat es immer wieder geschafft sich aus den Affären heraus zu ziehen indem er sie auf die lange Bank schob.“
Aber wie gesagt: Zum Rücktritt führte nicht die politische Kritik an seiner Politik, sondern Kritik auf einem Nebenkriegsschauplatz.
„Auch er wollte dem Volk ein ‚Dummheits-Koeffizient‘ zuschreiben. Mit seiner geklauten bzw. gekauften Dr. Arbeit war dann aber Schluss!“
Nur ist es tendenziell das gemeine Volk, das zu Guttenberg hält, während es die sich selbst so bezeichnende „Bildungselite“* ist, die Guttenbergs Agieren auf dem akademischen Feld zum Anlaß einer politischen Kampagne machte.
* http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Forum:Und_jetzt_bitte_eine_offizielle_Entschuldigung_an_die_Welt_der_Wissenschaft,_Frau_Merkel!
Siehe auch noch zu weiterer Kritik an meiner Position:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/01/nach-dem-abgang-des-symptoms-eine-offenherzige-antwort-an-30-000-dt-akademikerinnen/#comment-4619 + Antwort
Theorie Als Praxis: @ Wolfgang Grünwald: Wenn Du die Frage SO stellst, eher das erstere, als das zweitere.
Tatsächlich ist Moral aber weder ein bloß aktueller „gesellschaftlicher Konsens“ noch eine „tief im Menschlichen verwurzelte Größe“, sondern immer zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Gruppierungen UMSTRITTEN.
„Moral“ ist also keine Begründung, sondern selbst begründungs- (argumentations-) -bedürftig.
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Ergänzender Hinweis zu strategischen Fragen:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/01/nach-dem-abgang-des-symptoms-eine-offenherzige-antwort-an-30-000-dt-akademikerinnen/#comment-4625:
„Ich hatte mich hier ja schon mehrfach als vehemente VerteidigerIn von Bündnispolitik und Kompromissen geoutet, aber ich hatte auch immer dazugesagt: bei voller Wahrung der Freiheit der eigenen Agitation und Propaganda.
Viel besser wäre gewesen, einen gemeinsamen Brief zu verfassen, der sich auf die schlichte Rücktrittsforderungen beschränkt (dann wäre ich sogar als 30.001. hinzugekommen) – und dann gibt es dazu je unterschiedliche individuelle oder fraktionelle Begründungen.“
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Als referrer gefunden:
http://www.forschungsmafia.de/blog/2011/03/02/guttenberg-faules-zweitgutachten/#comment-3478:
„Hier trägt jemand, der noch länglicher schreibt als du ;-) , interessante Kritik an den briefeschreibenden Doktoranden und am Wissenschaftsbetrieb vor:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/03/01/nach-dem-abgang-des-symptoms-eine-offenherzige-antwort-an-30-000-dt-akademikerinnen/“ (link hinter „du“ hinzugefügt, TaP)