Im Nachgang zur kürzlichen Nationalismus/Antiimperialismus-Diskussion – und in doppelter Abgrenzung sowohl gegen klassenunspezifisch-antiimperialistische Vereinnamung* Lenins als auch gegen antinationale Kritik an Lenin (workshop 3) – folgt hier noch ein Nachtrag in Form eines Auszuges aus einem älteren Text, den ich gerade online gestellt habe.
* „In der imperialistischen Phase des Kapitalismus findet der nationale Klassenkampf seine internationale Entsprechung im antagonistischen Konflikt zwischen Unterdrücker- und unterdrückten Nationen. Den Nationalismus der unterdrückten Nationen betrachtete Lenin als tendenziell fortschrittlich, den der Unterdrücker-Nationen als ausschließlich reaktionär.“ (Werner Pirker) Die gesellschaftlichen Widersprüche innerhalb der verschiedenen Nationen, insb. der „unterdrückten Nationen“, verschwindet und die „unterdrückten Nationen“ werden schlicht zur ‚Entsprechung‘ der ArbeiterInnenklasse erklärt. Aber genau dies war Lenins Position nicht.
Nationale Befreiung oder feministisch-kommunistische Revolution?
Es geht darum, im Rahmen einer revolutionären Strategie handlungsfähig zu werden. Dafür ist es zwar einerseits keinesfalls geboten, die politischen Positionen der PKK1 zu übernehmen.
RevolutionärInnen haben zwar den türkischen Kolonialismus und dessen Unterstützung durch die BRD anzugreifen, bis hin zur Verteidigung des Rechts der KurdInnen auf Lostrennung von Türkei. Dies ist aber «in der Hauptsache eine negative Aufgabe»2, die in der Kritik von Kolonialismus und Imperialismus besteht. Eine positive Stellungnahme zur kurdischen (oder irgendeiner anderen, insbesondere deutschen) Nation kann aber nicht die Aufgabe der RevolutionärInnen sein: Denn «der Nationalstaat [ist] für die kapitalistische Periode das Typische, das Normale»3.
Lenin gegen den Nationalismus
«In jeder Nation gibt es […] eine bürgerliche (und in den meisten Fällen noch dazu eine erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in Form von ‘Elementen’, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die ‘nationale Kultur’ schlechthin die Kultur der Gutsbesitzer, der Pfaffen, der Bourgeoisie. [… Wir] entnehmen […] jeder nationalen Kultur nur ihre […] sozialistischen Elemente; entnehmen sie nur und unbedingt als Gegengewicht zur bürgerlichen Kultur, zum bürgerlichen Nationalismus jeder Nation.»4
RevolutionärInnen dürfen nicht die «Losung der nationalen Kultur» aufstellen, sondern müssen «im Gegensatz zu ihr in allen Sprachen […] die Losung des Internationalismus […] propagieren»5.
Sie propagieren nicht die nationale Abgrenzung, sondern die gemeinsame Organisierung aller RevolutionärInnen innerhalb der jeweils gegebenen (staatlichen) Gebietskörperschaften sowie die Überwindung der nationalen Unterschiede im weltrevolutionären Prozeß.6 (Beides schließt nicht aus [sondern sollte vielmehr einschließen], daß sich die Angehörige spezifisch unterdrückter und ausgebeuteter Gruppen zusätzlich gesondert gegen eine – anderenfalls zu erwartene – Reproduktion dieser Unterdrückungsformen in der revolutionären Bewegung organisieren.).
Die Ausübung des Rechts auf nationale Lostrennung wird für RevolutionärInnen nur unter zwei Voraussetzung7 zur eigenen Losung:
1. Die RevolutionärInnen sind zu schwach (bzw. die Pseudo-RevolutionärInnen sind nicht willens), sämtliche Unterdrückung (einschließlich der nationalen) innerhalb der gegebenen Staatsgrenzen zu überwinden. (Diese Voraussetzung ist in der Türkei/Kurdistan zweifelsohne gegeben).
2. Gleichzeitig hat sich innerhalb der national unterdrückten Gebiete eine starke nationalistische (und das heißt immer: bürgerliche) Bewegung herausgebildet, die gute Erfolgsaussichten hat, zumindest diese Unterdrückung zu beseitigen. (Dies – aber auch nicht mehr – ist in Form der PKK in türkisch Kurdistan ebenfalls gegeben.)
Aber auch in diesem Fall dürfen sich die RevolutionärInnen weder organisatorisch noch politisch den (bürgerlichen) NationalistInnen unterordnen, sondern müssen den Kampf für ihre weitergehenden Ziele fortsetzen.
Andererseits dürfen die – sich aus dieser Position ergebenen – Differenzen zur Politik der PKK aber auch nicht zum Alibi für Nicht-Verhalten werden: «Wichtig ist, die Unterschiede wahrzunehmen […], aber genauso wichtig ist es, aus den die HERRschaft stärkenden Abgrenzungen auszubrechen und ein kämpferisches Miteinander zu entwickeln, das die Durchsetzung alter und neuer patriarchaler Macht und kapitalistischer Verwertungsziele behindert, wo immer wir es schaffen. Unsere Hoffnung auf Frauenbefreiung und unsere Vorstellung von Kommunismus […] kann als Tendenz nur dann sicht- und lebbar werden, wenn wir unsere von einander abgegrenzten und gegeneinander ausspielbaren […U]nterdrückungen und unsere unterschiedlichen Strategien dagegen in eine Kraft vernetzter Widerstandsstrukturen umwandeln.»8
- Vgl. bspw.: «Ein Verständnis der Menschheit, das sich nicht auf Patriotismus stützt, ist Kosmopolitismus. Es ist ohne Resultat und Hoffnung. Das bedeutet, mit den Menschen auf eine gefährliche Art zu spielen.» (Öcalan, in: Kurdistan-Report, März 1994 zit. n. gruppe demontage, Postfordistische Guerilla? Vom Mythos nationaler Befreiung, in: 17° C, Nr. 14, Mai/Juni/Juli 1997, S. 67). Vgl. krit. zur Politik der PKK ebenfalls: Rote Zora, Ihr habt die Macht, uns gehört die Nacht, in: radikal, Nr. 153, Teil 1, Nov. 1995, S. 53 f. [zurück]
- Vgl. dazu: «Der Grundsatz der Nationalität ist in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich, und der Marxist, der mit dieser Gesellschaft rechnet, erkennt die geschichtliche Berechtigung nationaler Bewegungen durchaus an. Damit aber diese Anerkennung nicht zu einer Apologie des Nationalismus werde, muß sie sich strengstens auf das beschränken, was an diesen Bewegungen fortschrittlich ist, damit sie nicht zur Vernebelung des proletarischen Klassenbewußtseins durch die bürgerliche Ideologie führe. Fortschrittlich ist das Erwachen der Massen aus dem feudalen Schlaf, ihr Kampf gegen Unterdrückung, für die Souveränität des Volkes, für die Souveränität der Nation [statt des Monarchen, d. Verf.In]. Daher die unbedingte Pflicht des Marxisten, auf allen Teilgebieten der nationalen Frage den entschiedensten und konsequentesten Demokratismus zu verfechten. Das ist in der Hauptsache eine negative Aufgabe. Weiter darf das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, denn dann beginnt die ‘positive’ (bejahende) Tätigkeit der nach Stärkung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie. Jedes feudale Joch, jede nationale Unterdrückung, jedwede Privilegien einer der Nationen oder Sprachen abzuschütteln, ist die unbedingte Pflicht des Proletariats als einer demokratischen Kraft, ist das unbedingte Interesse des proletarischen Klassenkampfes, der durch den nationalen Hader verdunkelt und gehemmt wird. Aber den bürgerlichen Nationalismus über diese streng gezogenen, durch einen bestimmten historischen Rahmen gegebenen Grenzen hinaus zu fördern, heißt das Proletariat verraten und sich auf die Seite der Bourgeoisie schlagen.» (LW 20, 19 f. – Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage; Hervorh. teils i.O., teils d. Verf.In). Was Lenin hier zum Verhältnis des Klassenkampfes zur Nation sagt, gilt entsprechend auch für die Austragung anderer gesellschaftlicher Widersprüche, insbesondere des Geschlechterkampfs. [zurück]
- LW 20, 399 – Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Der Begriff der «Selbstbestimmung» ist dabei nicht in einem besonders emphatischen Sinn, sondern im nüchtern-juristischen Sinne zu verstehen: «Unter Selbstbestimmung der Nationen ist ihre staatliche Lostrennung von fremden Nationalgemeinschaften zu verstehen, ist die Bildung eines selbständigen Nationalstaates zu verstehen.» (ebd., s.a. S. 402 unten). Die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung ist damit in ihrer Reichweite also ähnlich begrenzt, wie die Forderung nach Parlamentssouveränität statt Feudalismus (vgl. ebd., 401). Sie hat übergangsweise ihre Berechtigung, aber sprengt nicht die bürgerlichen Produktionsverhältnisse: «Vom Gesichtspunkt der nationalen Beziehungen bietet der Nationalstaat zweifelsohne die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß ein solcher Staat auf dem Boden der bürgerlichen Verhältnisse die Ausbeutung und Unterdrückung der Nationen ausschließen könnte.» (ebd. 402). [zurück]
- LW 20, 9 – Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage; Hervorh. i.O. [zurück]
- Ebd.; Hervorh. i.O. [zurück]
- «Die großrussischen und ukrainischen Arbeiter müssen gemeinsam und, solange sie in einem Staat leben, in engster organisatorischer Einheit und Verschmolzenheit für die allgemeine oder internationale Kultur der proletarischen Bewegung eintreten und in der Frage, in welcher Sprache sie propagiert wird und was für rein örtliche oder rein nationale Besonderheiten berücksichtigt werden, absolute Toleranz üben. […]. Jede Propagierung der Trennung der Arbeiter einer Nation von einer anderen, alle Ausfälle gegen marxistisches ‘Assimilantentum’ […] ist bürgerlicher Nationalismus, gegen den ein unbedingter Kampf geführt werden muß. […]. Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‘gerecht’, ‘sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung aller Nationen zu einer höheren Einheit, die vor unseren Augen wächst mit jedem Eisenbahnkilometer, mit jedem internationalen Trust, mit jedem (in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit sowie in seinen Ideen und seinen Bestrebungen internationalen) Arbeiterverband.» (ebd., 18, 19 – Hervorh. i.O.). [zurück]
- «Wäre der Kapitalismus in England so rasch gestürzt worden, wie Marx anfänglich erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, gesamtnationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem sie aber einmal entstanden ist, gibt Marx den englischen Arbeitern den Rat, sie zu unterstützen, […].» (LW 20, 446 – Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen). «Die englische Working Class wird nie was ausrichten, before it has got rid of Ireland.» (MEW 32, 415 – Hervorh. i.O.). [zurück]
- Rote Zora, Ihr habt die Macht, uns gehört die Nacht, in: radikal, Nr. 153, Teil 1, Nov. 1995, S. 54. [zurück]
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