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Ein Nachtrag zum Kongreß „Die Idee des Kommunismus“ in der Volksbühne in Berlin1
„Hinter diesen Ausdrücken [‚gesamtheitlich’, ‚das Umfassende’, ‚die Allgemeinheit’ und ‚das allgemeine Moment’] […] scheint mir die Vorstellung zu stehen, daß die Marxsche Theorie fähig sei, die Gesamtheit des Prozesses, der vom Kapitalismus zum Kommunismus führen wird, zu ‚umfassen’ (d’englober), während sie tatsächlich nur die widersprüchlichen Tendenzen, die im gegenwärtigen Prozeß wirken, angibt. Einmal befreit von dem prophetischen Zug, den seinen Jugendwerken und utopischen Sozialismus anhaftet […], denkt Marx den Kommunismus als eine in der kapitalistischen Gesellschaft angelegte Entwicklungstendenz. […]. Sie existiert bereits konkret, in den ‚Zwischenräumen der kapitalistischen Gesellschaft’ (interstices de la société capitaliste) (ein wenig so wie der Warenhandel ‚in den Zwischenräumen’ der Sklavenhalter- oder feudalen Gesellschaft existierte); […]. Ich glaube, daß die Marxsche Theorie ‚endlich’ und begrenzt ist (‚finie’ et limitée). […]. Zu sagen, daß sie begrenzt ist, heißt im wesentlichen, daß die Marxsche Theorie etwas anderes ist als eine Geschichtsphilosophie, die im eigentliche Sinne, die Zukunft der Menschheit ‚umfassen’ (englober) würde und also fähig wäre, von vornherein den Begriff des Kommunismus positiv zu definieren. […].
Mir scheint, daß es in der Problemstellung der italienischen Diskussionen einen Zusammenhang gibt zwischen den Begriffen der ‚società politica’, des Staates und der Verwendungsweise der ‚Allgemeinheit’ als Gegenteil der ‚Privatheit’, […]. Ich glaube, daß diese Sammlung von Begriffen, die untereinander zusammenhängen, […] auf das bürgerliche Politikverständnis und die dahinterstehende Ideologie verweist, ob nun auf den latenten Idealismus einer ‚Universalität des Staates’, der ‚das Universelle’ realisiert, oder einer ‚Allgemeinheit’ einer endlich von Ausbeutung, Arbeitsteilung und Unterdrückung (‚Führer/Geführte’) befreiten Menschheit, den Marx lange Zeit mitschleppt, in seinen Jugendschriften, wo er ihn von Feuerbach erbt, aber selbst danach noch: Im Grunde liegt das menschliche Wesen im Staat, der dessen Universalität in entfremdeter Form ausdrückt; es genügt also, das zu erkennen und sodann eine gute ‚Universalität’ in nicht entfremdeter Form zu verwirklichen. Am Ende dieses Weges steht der Reformismus. Das ist nun der Punkt, der mir wesentlich erscheint: Daß der Klassenkampf (der bürgerliche und der proletarische) um die Staatsmacht geführt wird (hic et nunc), heißt keineswegs, daß man die Politik in Bezug auf den Staat definieren muß. […].“ (42 f., 44 f.)
„Es [Ein idealistisches Kommunismusbild] kann messianische Illusionen nähren, […]; es kann sie [die Formen des Handelns] vom praktischen Materialismus der ‚konkreten Analyse der konkreten Situation’ wegführen; es kann die leere Vorstellung einer ‚Universalität’ unterstützen, die sich in zweideutigen Ersatzformeln ausdrückt, wie dem ‚allgemeinen Moment’, wo eine gewisse ‚Gemeinsamkeiten’ allgemeiner Interessen befriedigt werden muß, als grobe Skizze dessen, was eines Tages die Universalität eines wahren ‚Gesellschaftsvertrages’ in einer ‚geregelten Gesellschaft’ (Gramsci) sein könnte.“ (50).
„Auch wenn diese Gesellschaft endlich vom Staat befreit ist, kann man doch nicht sagen, daß sie das Ende der Politik bringen wird“ (50).
(Louis Althusser, Der Marxismus als eine endliche Theorie, in: ders. u.a., Den Staat diskutieren. Kontroversen über eine These von Althusser hrsg. von Elmar Altvater / Otto Kallscheuer, Ästhetik und Kommunikation: [West]berlin, 1979, 42 – 52 (zuerst auf Ital. zwischen April und Sept. 1978 in der Tageszeitung il manifesto und dann in: Discutere lo Stato. Posizioni a confronto su una tesi di Louis Althusser. Bari, 1978 erschienen).
1. „Kommunismus als eine in der kapitalistischen Gesellschaft angelegte Entwicklungstendenz“
Dazu ein Engels-Zitat:
„Dieser Appell an die Moral und das Recht hilft uns wissenschaftlich keinen Fingerbreit weiter; die ökonomische Wissenschaft kann in der sittlichen Entrüstung, und wäre sie noch so gerechtfertigt, keinen Beweisgrund sehn, sondern nur ein Symptom. Ihre Aufgabe ist vielmehr, die neu hervortretenden gesellschaftlichen Mißstände als notwendige Folgen der bestehenden Produktionsweise, aber auch gleichzeitig als Anzeichen ihrer hereinbrechenden Auflösung nachzuweisen, und innerhalb der sich auflösenden ökonomischen Bewegungsform die Elemente der zukünftigen, jene Mißstände beseitigenden, neuen Organisation der Produktion und des Austausches aufzudecken. Der Zorn, der den Poeten macht, ist bei der Schilderung dieser Mißstände ganz am Platz, oder auch beim Angriff gegen die, diese Mißstände leugnenden oder beschönigenden Harmoniker im Dienst der herrschenden Klasse; wie wenig er aber für den jedesmaligen Fall beweist, geht schon daraus hervor, daß man in jeder Epoche der ganzen bisherigen Geschichte Stoff genug für ihn findet.“ (MEW 20, 139)
und ein weiterer Auszug aus meinem bisher nur ausweise veröffentlichten Papier „Warum Globale Soziale Rechte nicht antikapitalistisch sind, aber linke Politik trotzdem Rechtsforderungen braucht“ (vgl. 1 und 2):
„Der Ausdruck ‚Elemente einer zukünftigen, neuen Organisation der Produktion’ ist […] in zweierlei Hinsicht zu verstehen:
a) als ‚destruktive’ Elemente: Es sind die Widersprüche der gegenwärtig herrschenden Produktionsweise, d.h. die Konflikte der gegenwärtigen Gesellschaftsformation, die ‚eine Praxis der Veränderung nicht nur ein voluntaristisches Ideal’ (Balibar 1984, 629) sein lassen.
b) als ‚positive’ Elemente: Ein bestimmter Stand der technischen und organisatorische Produktivkräfte als zwar nicht hinreichende, aber notwendige Voraussetzung einer Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung. Denn, daß auf den Zusammenbruch des Römischen Reiches kein Sprung in den Kommunismus erfolgte, lag – anders als der Juristen-Sozialismus meint – nicht an mangelhafter rechtsphilosophischer Klarheit der zeitgenössischen Subjekte, sondern an fehlenden ökonomischen und politischen Voraussetzungen (vgl. Engels/Kautsky 1897, 496 – 498 und kritisch-präzisierend zu dortigen „evolutionistischen Anklängen“: Schöttler 1977/80, 9, 14 f.).“
„In diesem Sinne (in der jetzigen Produktionsweise die Elemente der zukünftigen neuen Organisation der Produktion und des Austausches ausfindig machen) – und nicht in irgendeinem geschichtsdeterministische Sinne – ist auch das folgende bekannte Zitat zu verstehen: ‚Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt Bestehenden Voraussetzung.’ (Marx/Engels 1845/46, 35 – Hv. i.O.). Vgl. zu diesem Thema auch noch Lenins (1917/18, 485) Kommentar zu Marx’ Kritik des Gothaer Programms: ‚Die große Bedeutung der Erörterungen von Marx besteht darin, daß er […] den Kommunismus als etwas betrachtet, das sich aus dem Kapitalismus entwickelt. An Stelle scholastischer, ausgeklügelter, ‚erdachter’ Definitionen und fruchtloser Wortklaubereien (was Sozialismus, was Kommunismus sei) gibt Marx eine Analyse […].’ (Hv. i.O.).“
2. „Geschichtsphilosophie“ (im Unterschied zu Geschichtswissenschaft)
Dazu ein weiteres Althusser-Zitat:
„Vor Marx war das, was man den ‚Kontinent Geschichte’ nennen kann, von ideologischen Konzeptionen religiöser oder moralischer oder juristisch-politischer Art besetzt, mit einem Wort von Geschichtsphilosophien. […]. Wir haben gezeigt, daß Marx die alten Grundbegriffe (wir haben sie statt ‚concepts’ ‚notions’ genannt) der Geschichtsphilosophien durch absolut neue, bisher nicht dagewesene in den alten Konzeptionen ‚unauffindbare’ Begriffe ersetzt hatte. Wo die Geschichtsphilosophien von Mensch, ökonomischen Subjekt, Bedürfnis, System der Bedürfnisse, Bürgerlicher Gesellschaft, Entfremdung, Diebstahl, Unrecht, Geist, Freiheit, ja auch von ‚Gesellschaft’ sprachen, da hat Marx angefangen von Produktionsweise, Produktivkräften, Produktionsverhältnisse, Gesellschaftsformation, Basis, Überbau, Ideologien, Klassen, Klassenkampf usw. zu sprechen.“ (Althusser 1970, 77, 80 – Hv. d. Vf.In; vgl. Kolckenbrock-Netz/Krone 1976, 118 f. [Buhr vs. Althusser].)
(Ich spare mir hier, auf bestimmte Zweideutigkeit hinsichtlich des Verhältnisses von Wissenschaft und politischem Standpunkt in dem zitierten Althusser-Text genauer einzugehen.)
3. „kann man doch nicht sagen, daß sie [die Gesellschaft ohne Staat] das Ende der Politik bringen wird“
Auch wenn Engels meinte, daß das Abstreben des Staates darin bestehe, daß „[a]n die Stelle der Regierung über Personen die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“ trete (MEW 20, 262), so scheint es doch realistisch, daß es auch im Kommunismus – wenn auch keine antagonistischen Interessen von gesellschaftlichen Gruppen, so doch – unterschiedliche Interessen von Personen geben wird, über die politisch verhandelt und entschieden werden muß; die also nicht rein technokratisch („Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“) zu lösen sind.
Vgl. zur Nicht-Identität des Abstrebens der Staates mit dem Absterben der Politik auch noch den Abschnitt „Politik – eine staatliche Veranstaltung“ in:
Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf, Politik – Gute Herrschaft oder konfliktorische Praxis?, in: dies. (Hg.), Politisierung und Ent-Politisierung als performative Praxis (StaR « P. Neue Analyen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Bd. 1), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2006, 7 – 21 (10).
4. „in der Problemstellung der italienischen Diskussionen einen Zusammenhang gibt zwischen den Begriffen der ‚società politica’, des Staates und der Verwendungsweise der ‚Allgemeinheit’ als Gegenteil der ‚Privatheit’“
Vgl. http://theoriealspraxis.blogsport.de/1994/07/06/staat-gesellschaft-und-revolutionaere-neubestimmung/ und http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/09/10/zivilgesellschaft-oder-ideologische-staatsapparate/.
5. „die Marxsche Theorie ‚endlich’ und begrenzt ist“
„Erst eine explizite Ausweisung der Marxschen Theorie als einer endlichen Theorie über ein bestimmtes Gegenstandsfeld sichert ihr die Möglichkeit einer produktiven Rezeption.“
(Frieder Otto Wolf, Philosophische Retraktationen zu Kapitalismus, Staat und Politik – erneute Annäherungen an die großen Themen der Zukunft, erscheint in: ders., Rückkehr in die Zukunft – Krisen und Alternativen, Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010)
Literatur:
Althusser, Louis: Die Bedingungen der wissenschaftlichen Entdeckung von Marx. Über die neue Definition der Philosophie (1970), in: Horst Arenz / Joachim Bischoff / Urs Jaeggi (Hg.), Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, VSA: Westberlin, 1973, 77 – 88 (engl. Fassung im internet unter: http://www.marx2mao.com/Other/ESC76ii.html#s2b; erw. frz. Fassung in: Wilhelm R. Beyer [Hg.], Hegel-Jahrbuch 1974, Pahl-Rugenstein: Köln, 1975, 128 – 136).
Balibar, Etienne: Stichwort „Klassenkampf“, in: Gérard Bensussan / Georges Labica (Hg.), Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 4. Dt. Fassung hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Argument-Verlag: [West]berlin, 1986, 626 – 636 (frz. Originalausgabe: PUF: Paris, 19821, 19842).
Engels, Friedrich / Karl Kautsky: Juristen-Sozialismus (1897), in: MEW 21 (19621, 19848), 491 – 509 (im internet unter: http://theoriealspraxis.blogsport.de/images/Juristensozialismus.pdf).
Kolckenbrock-Netz, Jutta / Klaus Krone, Diskussion über Dialektik, in: Marxistische Blätter Mai/Juni 1976, 117 – 119.
Lenin, W.I.: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, in: LW 25 (19816), 393 – 507 (im internet unter: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/staatrev/index.htm; engl. Fassung: http://www.marxists.org/archive/lenin/works/1917/staterev/index.htm).
Marx, Karl / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845/46), in: MEW 3 (19581, 19837), 9 – 543 (im internet unter: http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_009.htm; engl. Fassung: http://www.marxists.org/archive/marx/works/1845/german-ideology/index.htm).
Schöttler, Peter: Friedrich Engels und Karl Kautsky als Kritiker des „Juristen-Sozialismus“, in: Demokratie und Recht 1980, 3 – 25 (eine längere Fassung erschien in: Recht en Kritiek 1977).
- Vgl. dazu bereits: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/06/27/bombardiert-das-hauptquartier-der-philosophen-koenige-oder/; engl. version: http://qlipoth.blogspot.com/2010_07_01_archive.html (The Idea of Communism: From A to Z [Thursday, July 01, 2010]). [zurück]
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