Theoretische Nachbemerkungen zur CSD/Rassismus-Debatte und zugleich notwendige politische Anmerkungen zum diesjährigen transgenialen CSD
Zara wies in einem Kommentar zu meinem Beitrag „Noch einmal zu den Rassismus-Vorwürfen gegen den Berliner CSD“ auf den Text von Tove Soiland „Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie“ in der feministischen internet-Zeitschrift querelles-net Nr. 26 aus dem Jahr 2008 hin.
Ich finde den Text auch sehr gut:
1. Ich teile den Eindruck, daß auch der Intersektionalitätsansatz letztlich zu einer bloß additiven Sichtweise tendiert:
„Die Kategorien kritischer Gesellschaftstheorie zeichnen sich […] dadurch aus, dass sie komplexe Mechaniken gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion bezeichnen; sie bezeichnen nicht oder nicht in erster Linie Gruppen. Und dies verweist zurück auf das Problem, dass die Forderung nach intersektionellen Analysen in einem Diskriminierungsdiskurs beheimatet ist. Kategorien, die für das Problem von Diskriminierung in Frage kommen, sind nun aber nicht per se auch solche, die maßgeblich an der Organisation gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion beteiligt resp. für diese zentral sind. Es geht [bei intersektionalen Analysen, TaP], wie Dietze et al. (2007, S. 10) zu Recht formulieren, um ‚Kategorien der Benachteiligung‘, die weniger komplexe Mechanismen gesellschaftlicher Organisation als die Zuschreibung ‚realer‘ oder vorgestellter Merkmale und die damit verbundenen Vorurteile bezeichnen. So ist denn auch selbstverständlich die Anzahl der Gründe, die zu einer Benachteiligung Anlass geben, in der Tendenz offen (Degele/Winker 2007, S. 11) und macht es – im Bereich der Antidiskriminierung – Sinn, nach diesen zu fragen.“
Damit sind wir dann wieder bei der Logik der Aufzählungen: Es werden ‚Benachteiligungen‘ aufgelistet und deren Gründe aufgezählt – und im Zweifelsfall hilft ein „usw.“ weiter.
Mit der Länge der Liste ist aber zur Adäquatheit der Analyse der Gründe und der darauf aufgebauten politischen Strategie noch nichts gesagt.
Die politische Konsequenz der Aufzählungslogik ist, daß im Berliner CSD/Rassismus-Streit beide Seiten Opferkonkurrenz betreiben und sich gegenseitig vorwerfen: Judith Butler und die Gruppen, die sie – anschneinend mit ziemlich wenig konkreten Informationen (vgl. 1 und 2 [am Anfang]) – brieften, werfen dem CSD eine Vernachlässigung des Kampfes gegen Rassismus vor oder sogar dessen Komplize zu sein. Die andere Seite kontert mit dem Vorwurf der Vernachlässigung des Kampfes gegen Antisemitismus, und der Kampf gegen Transphobie und Intersexuellenphobie wird von beiden Seiten beansprucht. Nur am Feminismus scheinen beide Seiten gleichermaßen wenig Interesse zu haben.
2. Ich teile den Eindruck, daß es in Intersektionalitäts-Studien eine Vernachlässigung von Gesellschaftstheorie gibt. Es wird eher auf (quantifizierbare) Effekte geguckt als auf strukturelle Ursachen (auch wenn der Anspruch teilweise ein anderer ist):
„Es scheint, und dies ist für mich der eigentliche Grund, warum Erkenntnisse aus dem Feld der Antidiskriminierung nicht tel quel auf Fragen der Gesellschaftstheorie übertragen werden können, dass mit dem Wort ‚Kategorie‘ zwei Dinge zugleich benannt werden, die kategorial gesehen nicht auf derselben Ebene liegen. So kann die beschreibende Soziologie Interferenzen denken, weil sie diese als Merkmale konzipiert. Umgekehrt kann die Forderung, komplexe Dynamiken gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion interferent zu denken, erhebliche Schwierigkeiten bereiten und ist auch nicht in jedem Fall sinnvoll resp. kann nur eingelöst werden, wenn diese Dynamiken wiederum auf ‚Merkmale‘ einer Gruppenzugehörigkeit reduziert werden.“
Beide von Tove Soiland gemeinten Seiten beanspruchen über Kategorien zu reden, worunter die einen aber beschreibende Merkmale verstehen und die anderen analytisch-erklärende Begriffe. – Die wissenschaftliche Konsequenz davon, sich mit Merkmalen zu bescheiden (statt Begriffe zu erarbeiten), wird von Tove Soiland klar ausgesprochen:
„Das eigentliche Untersuchungsobjekt sind damit nicht die Mechanismen der Segregation, sondern deren Effekte und daran anschließend die Frage, wie Gruppen zu konzeptualisieren sind, um genügend komplex, das heißt, den realen soziologischen Gegebenheiten angemessen zu sein.“ (Hv. d. TaP).
Und die politische Konsequenz des Guckens auf Effekte und der Aufzählungs-Logik, die diese beim transgenialen CSD hatten, hat die taz, wenn auch nicht aus inhaltlichem Interesse an revolutionärer Politik, sondern allein aus Häme-Gründen treffend auf den Punkt gebracht:
„Das Politische kam wahrlich nicht zu kurz, verursachte aber vielen Teilnehmern aufgrund der leider nicht kommerziellen Lautsprecheranlage Kopfschmerzen. Die Verlesung der Traktate kam so mitunter nur als Hintergrundkakophonie an: ‚Ismus…istisch…Ismus‘. Bei näherem Hinhören jedoch unterschieden sich die Forderungen nicht wirklich von jenen, die auch auf den großen CSDs gestellt werden. Etwa dem Aufruf zu Solidarität mit Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in Osteuropa und in der ganzen Welt und zur Bekämpfung von Homophobie – plus einer Extraportion Antirassismus und Kapitalismuskritik.“
Weil auch der tCSD keine Begriffe von Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat hat, wird vermeinliche Radikalität über die Länge von Aufzählungen, das Pathos von Adjektiven und sich überschlagender Stimmen sowie die moralisierende Kritik böser Absichten und strategielose „sofort“-Forderungen („Für die sofortige Abschaffung des heteronormativen Zweigeschlechtersystems!“ [Autotrans]) ‚hergestellt‘. So wurde etwa in der Manier linksparteilicher und gewerkschaftlicher verkürzter Kapitalismus-Kritik gepoltert: (mehr…)