Der deutsche „materielle“ Rechtsstaats-Begriff hat also nichts mit philosophischem Materialismus, und schon gar nichts mit Historischem Materialismus im Sinne des Marxismus zu tun – auch wenn einige, geisteswissenschaftlich geprägte und in ihrer philosophischen Position idealistische sozialdemokratische Juristen seit Hermann Hellers Prägung des Begriffs des „sozialen Rechtsstaats“ an der weiteren Begriffsentwicklung mitgewirkt haben und dabei eine Zeitlang einige sozialstaatliche Brosamen abfielen.
Gegen-Begriff zum „materiellen Rechtsstaat“ ist nicht der ‚ideelle’ oder ‚idealistische Rechtsstaat’ (wie dies im Falle einer Begriffsverwendung i.S.v. philosophischem Materialismus der Fall wäre), sondern – wie wir schon gesehen haben – der „formelle Rechtsstaat“. „Materieller“ und „formeller Rechtsstaat“ werden von der deutschen Rechtswissenschaft im Rahmen eines essentialistischen Diskurses gegenübergestellt wieWesen und Erscheinung,
Substanz und Form,
tiefgründig und oberflächlich,
wertvoll (hoch) und überflüssig
(oder: zumindest zu vernachlässigen) (niedrig).
Und so läßt sich die dichotome Verwendung des Begriffspaares materieller und formeller Rechtsstaat wieder einmal als ein zentrales Symptom deutscher Tiefensehnsucht (Tiefe = Substanz) – verbunden mit idealistischen Höhenflügen (das ideale Wesen) – verstehen.
(Zitat aus: Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf, Vorwort: Rechtsstaatlichkeit – Minima Moralia oder Maximus Horror?, in: Schulze/Berghahn/Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne (StaR « P. Neue Analyen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Bd. 2), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 9-52 (14 f.).
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