Aus einer anderweitigen Diskussion (aus Anlaß des spd-seitigen Platzenlassens der Regierungsbildungsgespräche in Nordrhein-Westfalen aus geschichtspolitischen Gründen1):
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Person A.: „Es muss unbedingt das Wort ‚Unrechtsstaat’ sein, oder? Es reicht nicht ‚Die DDR war eine Diktatur’ […] Es muss unbedingt dieses eine Wort sein? Sorry, das halte ich für vorgeschoben.“
Ja, es ist – mangels aktueller Relevanz – vorgeschoben. Es dürfte ja selbst Unions-Leuten klar sein, daß die Linkspartei nicht zu DDR-Verhältnissen zurück will. Allerdings finde ich: Es besteht gar kein Anlaß, sich das Wort „Unrechtsstaat“ als Vorwurf so Herzen zu nehmen und sich dagegen mit Händen und Füßen zu wehren.
Denn:
Person B.: „auf die gefahr hin, dass das ärger gibt; war es rechtsstaatlich wie wir uns heute einen rechtsstaat vorstellen, dass unter adenauer heutige genossen von mir wegen ihrer sozialistischen überzeugung im knast saßen,“ usw.
Doch das entspricht haargenau dem herrschenden (bundes)deutschen Verständnis von „Rechtsstaat“. (In Österreich mit Hans Kelsen ist das noch mal etwas anderes. Bei Kelsen ist Rechtsstaat in etwa das, was im angelsächsischen und frankophonen Bereich „rule of law“ und „État légal’ ist: Herrschaft der [vorzugsweise parlamentarischen oder hypothetisch auch von Räten oder sonst wem beschlossenen] Gesetze und des – falls vorhanden – geschriebenen Verfassungsgesetzes.) In Deutschland sagt die dominante Strömung schon immer, daß „Rechtsstaat“ den Staat ermächtigt, sich notfalls gegen die beschlossenen und verkündeten (Verfassungs)gesetze ad hoc auf ein höheres Recht zu berufen. Das ist in der ganzen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachzulesen; das ist schon bei den Autoren des 19. Jh.s angelegt, und es findet sich rechts außen bei Autoren wie Carl Schmitt („Der Führer schützt das Recht“). Und damit wird selbst die Minimalerrungenschaft, die Staatsgewalt durch Gesetzesbindung zumindest berechenbar zu machen, untergraben.2
Das deutsche Feindbild ist der Formalismus, das bloße Gesetz, und dagegen wird sich auf ein höheres, metaphysisches Recht berufen.
Und diesen gleichermaßen unhistorischen wie unmaterialistischen wie undemokratischen Diskurs machen sich leider viele Linke mit moralisch aufgeladenen Begriffen von „Unrecht“, „Gerechtigkeit“ usw. zu eigen – und reagieren deshalb auf den Vorwurf „Unrechtsstaat“ so allergisch. (Marx’ hielt von einer solchen Gerechtigkeits-Metaphysik im übrigen nichts [MEW 19, 18; 25, 352].)
Gegen dieses metaphysische Rechts-Verständnis hat Person C recht, wenn sie geltend macht: „Recht ist doch nichts überhistorisch-moralisches – sondern das Herrschaftsprogramm, was Staat *mit Gewalt* gegen die Untertanen durchsetzt.“
Trotzdem muß differenziert werden:
++ Das Recht des Rechtsstaats beansprucht, überhistorisch zu sein; tatsächlich ist es auch nur historisch. Auch die Moralvorstellungen, die als „das Recht“ ausgegeben werden, ändern sich. „Das Recht“ wird aber versucht, mit seinem omnihistorischen Anspruch, ungreifbar zu machen. Darin liegt der undemokratische, besonders herrschaftsaffirmative Charakter dieses Diskurses.
++ Auch Gesetze sind Herrschaft, auch demokratisch beschlossene: sei es in einem bürgerlich-parlamentarischen oder in einem sozialistischen Räte-System. Herrschaft der Mehrheit der jeweils Entscheidungsbefugten über die jeweilige Minderheit (was wiederum keine rein arithmetische Frage in Institutionen ist, sondern von qualitativen gesellschaftlichen Machtverhältnissen beeinflußt ist). Trotzdem hat dieser gesetzlich-positivistische Herrschaftsdiskurs – aus herrschaftskritischer Perspektive – einen Vorteil gegenüber dem metaphysisch-überpositiven Diskurs. Die historische Variabilität der Gesetze wird eingestanden; sie können geändert werden; sie werden der kontroversen Diskussion und politisch-demokratischen Entscheidungsfindung zugänglich gemacht. Das metaphysische Recht soll dagegen der Diskussion entzogen werden.
Deshalb müßten sich Linke eigentlich gar nicht darüber aufregen, wenn die DDR als „Unrechtsstaat“ bezeichnet wird. Sie könnten das selbstbewußt als Lob auffassen.
Das Problem ist: Die DDR war kein „Unrechtsstaat“ im von mir positiv gemeinten Sinne. Auch die DDR ließ gerne mal ‚fünfe gerade sein’, wenn es für die ‚höhere Sache’ vermeintlich nützlich war; sie hatte ihre bekannten Probleme mit der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ (und dem demokratischen Charakter ihrer Gesetzgebung).3
In Wahrheit war die DDR eher ein „Rechtsstaat“ im bundesdeutschen Sinne als ein „Unrechtsstaat“, was die Rechtsmethodologie anbelangt – nur daß die DDR einen anderen Inhalt als die BRD auf dieses metaphysische ‚Recht an und für sich’ projizierte. Diese metaphysische Methode ist zu kritisieren – am Beispiel der DDR und der BRD. – Der Deutsche Idealismus lebt leider immer noch, und leider in manchen linken Köpfen besonders gut.
- „Die Linksfraktion, unterstützt vom Politprofi und Westbeauftragten der Partei Ulrich Maurer, war bereit, eine Erklärung zu unterschreiben, die die DDR als Diktatur bezeichnet. Dennoch fanden Grüne und SPD, die Linke ‚eiere in diesem Punkt herum’.“ (http://fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/2667887_Rot-Gruen-Rot-in-NRW-gescheitert-Kraft-machts-nicht-mit-Links.html) „Bei der Linken sei keine klare Haltung gegenüber der DDR zu erkennen. ‚Es kamen immer wieder Relativierungen, in der BRD sei auch Unrecht geschehen’, sagte Löhrmann.“ (http://www.wdr.de/themen/politik/landtagswahl_2010/wahl/koalitionsverhandlungen/100521.jhtml) [zurück]
- http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004700;jsessionid=0F261D67986B41CE692A0D780AF911AB (Dokumente pdf-Datei), http://userpage.fu-berlin.de/~dgsch/?page_id=217 und http://www.facebook.com/group.php?gid=260451562769&ref=ts [zurück]
- http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/07/27/unrechtstaat-ddr/ [zurück]
Zudem bewegt man sich mit der Verwendung des Begriffs schnell im Fahrwasser der Totalitarismustheorie und relativiert damit den NS. Das hat letztes Jahr sogar Gesine Schwan noch über die Lippen bekommen…
Erneut Danke für den guten Beitrag!
Keine inhaltliche Ergänzung, jedoch hast du das Prädikat vergessen: „Das Recht des Rechtsstaats beansprucht, überhistorisch zu sein; tatsächlich [ist] es auch nur historisch.“
Danke. Ist jetzt korrigiert,