Aus Anlaß der Regierungsbeteiligungsambitionen der nordrhein-westfälischen Linkspartei wieder herausgekramt
>>Entsprechend dieser Überlegung hat M. Stamm schon 1986 seinen Vorschlag einer bedingungslosen Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung entwickelt: Die Differenz zwischen CDU und SPD dürfe nicht einfach fundamentalistisch negiert werden, denn dies nutze im Ergebnis nur der SPD: „Die SPD schneidet (hinsichtlich der Sympathie, d. Verf.) bei ihnen (den grünen WählerInnen, d. Verf.) zwar schlechter ab als bei den SPD-WählerInnen, dafür die CDU noch schlechter, das bedeutet, daß sie [die Grünen-WählerInnen, TaP] den vorhandenen Unterschied zwischen SPD und CDU, wie die meisten SPD-WählerInnen, als wesentlichen Gegensatz verarbeiten.“19
Dieser Tatsache sei durch Nachgeben auf einer Ebene, auf der die GRÜNEN aufgrund des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses nur verlieren könnten, – dem inhaltlicher Regierungsbildungsverhandlungen / -vereinbarungen – Rechnung zu tragen. Erst, wenn die Frage der Regierungsbildung geklärt, und damit die „integrierende und disziplinierende Wirkung“ der „an der Frage des Regierungswechsels inszenierten Polarisierung ‚Rot‘ gegen ‚Schwarz‘“ leer gelaufen sei, bestehe wieder die Möglichkeit, die teilweise bestehenden inhaltlichen Differenzen zwischen der SPD und ihren WählerInnen zugunsten der GRÜNEN zu nutzen.“20
Eine Koalition zwischen SPD und GRÜNEN würde dagegen nach Ansicht von Stamm u.a. „die Einzelthemen, deren Unterordnung die alte ‚Schwarz-Rot‘-Polarisierung zur Zeit der Schmidt-Regierung nicht mehr leistete, was eine Voraussetzung für das Entstehen der Grünen war, erneut und viel effizienter untergeordnet werden und zwar unter die Erfordernisse des Hauptanliegens Rot/Grün gegen Schwarz/Gelb.“21< <
Dies bedeutet für heute:
Solange sich die Linkspartei-WählerInnen SPD und Grünen (erheblich) näher sehen als Union und FDP, solange bleibt der Linkspartei nichts anderes übrig, als anzubieten, SPD und Grüne gegen Union und FDP zu stützen. Alles andere würde viele Linkspartei-WählerInnen zurück in das SPD/Grünen-Lager treiben.
Allerdings sollte sich die Linkspartei nicht selbst zu einem Teil eines gemeinsamen Lagers SPD/Grüne/Linkspartei machen. Vielmehr sollte sie (wenn sie es denn selbst so sieht; was aber nicht sicher ist) daran arbeiten, deutlich zu machen, daß der Unterschied SPD/Grüne vs. Union/FDP nicht der ausschlaggebende, sondern nur ein gradueller ist. Das würde voraussetzen, daß sich die Linkspartei nicht für inhaltliche Gesamtpakete (durch ihre Unterschrift) verantwortlich machen läßt und diese dann verteidigt, sondern ihre Stützung von SPD/Grünen gegen Union/FDP genau auf diese Punkte beschränkt, wo tatsächlich ein Unterschied besteht – und sich im übrigen die volle Freiheit der Kritik und gesellschaftlichen Mobilisierung wahrt (was auf der Regierungsbank und auch bei Aushandlung und Unterzeichnung eines inhaltlichen Tolerierungspaketes nicht der Fall ist).
Nur mittels einer Entkoppelung von Regierungsbildungsfrage einerseits und Inhalten andererseits – d.h. mittels einer Politik der „bedingungslosen“ (wie Stamm sagte) oder „distanzierten“ (wie ich vorziehe zu sagen) Tolerierung – ist es möglich, die disziplinierende Wirkung der Blockbildung Union/FDP vs. SPD/Grüne(/Linkspartei) zu unterlaufen sowie SPD- und Grünen-WählerInnen in konkreten inhaltlichen Auseinandersetzungen gegen die offizielle Politik von SPD- und Grünen zu mobilisieren. Dies funktioniert dagegen weder, wenn diese WählerInnen vor eine „Alles oder nichts“-Alternative gestellt werden (‚Der Unterschied zwischen Kraft und Rüttgers interessiert uns nicht.‘), noch, wenn die Linkspartei auf SPD/Grünen-Politik einschwenkt und diese im Rahmen von Gesamt-Paketen mitträgt.
Zur Situation Anfang der 1930er Jahre:
>>SPD-Linke und SAP erkannten zwar, daß die sozialdemokratisch Tolerierung (der [Notverordnungs]politik) der bürgerlichen (Minderheits)regierungen die Faschisierung begünstigte (bspw. S. 226 ff.). Sie hatten dieser aber nur eine abstrakte Negation entgegenzusetzen: Die ‚fundamental-oppositionelle’ (S. 50) Ablehnung der SPD-offiziellen Tolerierung des „kleineres Übels“ (S. 85). Im Zweifelsfall sei eine faschistische Regierungsbeteiligung einer sozialdemokratischen Tolerierung einer bürgerlichen Regierung ohne FaschistInnen vorzuziehen. Gegen diese Regierung sei dann außerparlamentarischer Druck zu entfalten (S. 228). Ob dieser dann noch möglich ist, und wie er genau aussehen sollte, konnte die SAP aber nicht sagen.
Statt dieses va-banque-Spiels hätte also der Hauptstoß nicht gegen die mehrheitssozialdemokratische Tolerierungspolitik an sich, sondern gegen deren konkrete Ausgestaltung geführt werden müssen:
Das „kleinere Übel“ besteht in der Wirklichkeit und kann deshalb nur unter der Anerkennung seiner Existenz bekämpft werden. Friedrich Engels kritisiert die These des Abstentionismus*, das Bestehende dürfe von Linken nicht anerkannt werden, so: „Das Bestehende besteht und macht sich nicht wenig lustig über unsere Anerkennung. Wenn wir die Mittel, die uns das Bestehende gibt, benutzen, um gegen das Bestehende zu protestieren, ist das Anerkennung?“ (MEW 17, 412 [412] – Über die politische Aktion der Arbeiterklasse). Die Nutzung der ‚Mittel des Bestehenden’ im Kampf gegen das Bestehende ist aber nicht mit einem rein instrumentellen Verhältnis (jedes Mittel könne für beliebige Zwecke eingesetzt werden) möglich. Denn jedes Mittel funktioniert nach seiner eigenen Logik, ist also nur für bestimmte Zwecke nutzbar. Deshalb würde eine bloße Umkehrung der herrschenden Mittel hinter dem Rücken derjenigen, die sie benutzen, ebenfalls die herrschenden Zwecke realisieren. Die ‚Mittel des Bestehenden’ müssen also nicht nur für andere Zwecke, sondern auch anders als von den Herrschenden eingesetzt werden (Brecht sagt: „Lenin sprach nicht nur anderes als Bismarck, sondern er sprach auch anders.“)
Es wäre also notwendig gewesen, das „kleinere Übel“ tatsächlich gegen das „größere Übel“ (Nazis) zu stützen – wie der Strick den Gehängten (Lenin) –, aber ohne den „üblen“ Charakter des ersteren zu bestreiten und ohne auf eine Massenmobilisierung von links gegen das „kleinere Übel“ zu verzichten. Dies würde einschließen, auf parlamentarischer Ebene bei Abstimmungen über Einzelmaßnahmen / einzelne Gesetze eine tolerierte Regierung nur soweit zu unterstützen, wie sich diese tatsächlich von den Vorschlägen des „größeren Übels“ unterscheiden.< <
(Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf das Buch:
Heinz Niemann (Hg.), Auf verlorenem Posten? Zur Geschichte der Sozialistischen Arbeiterpartei. Zwei Beiträge zum Linkssozialismus in Deutschland von Helmut Arndt und Heinz Niemann, Dietz-Verlag: Berlin, 1991)
* Abstentionisms (von lat. abstinere = fernhalten) = Politik der Enthaltsamkeit gegenüber Wahlen, Parlamenten und/oder ähnlichen Institutionen.
S. außerdem die Beiträge
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/05/11/noch-einmal-nrw-vollwertige-oder-distanzierte-kooperation/
und
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/05/10/ueber-groessenwahn-und-illusionen/
- Michael Stamm: Überlegungen zum Zustand und den Aufgaben der Grünen Partei (1985), in: S. Friess / K. Linke / G. Munier (Hg.), Ökosozialistische Positionen zur Strategiedebatte der Grünen, Bielefeld/Bonn/Köln/Nürnberg, 1986, 22 ff. (24) [zurück]
- ebd., 29. [zurück]
- ders., Die GRUENEN nach Tschernobyl und vor den Bundestagswahlen, in: Kommune 9/1986, 24 ff. (29). [zurück]
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