- aus Anlaß eines blog-Eintrages beim Beck-Verlag zum Thema „Mindestlohn“ -
Beim Blog des Beck-Verlages gab es am Dienstag einen Vorab-Bericht von Prof. Dr. Christian Rolfs (Universität Köln) über die arbeits- und sozialrechtliche Abteilung des nächstjährigen JuristInnentages. Prof. Dr. Raimund Waltermann von der Universität Bonn wird dort eines der üblichen „Gutachten“ vorlegen und zwar zum Thema „Abschied vom Normalarbeitsverhältnis? Welche arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen empfehlen sich im Hinblick auf die Zunahme neuer Beschäftigungsformen und die wachsende Diskontinuität von Erwerbsbiographien?“.
Rolfs erwartet nun, daß Waltermann als eine der zu treffenden Regelungen einen Mindestlohn von 7,50 Euro/Stunde empfehlen wird. Diese Position habe Waltermann bereits in einem Vortrag bei der Arbeitsgruppe Europäisches und Internationales Arbeits- und Sozialrecht (EIAS) des Deutschen Arbeitsgerichtsverband vorgeschlagen: „Ein allgemeiner Mindestlohn erscheint aus rechtswissenschaftlicher Perspektive auf die Dauer sinnvoll. Er müsste so hoch sein, dass er Wirkung hat, und er dürfte nicht so hoch sein, dass er sich in die auf Privatautonomie und Tarifautonomie gegründete Arbeitsrechtsordnung nicht einfügt. Ein bei rund 7,50 Euro angesiedelter allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn als Antwort auf das entstandene Funktionsdefizit des Tarifvertrages könnte richtig zur Sicherung der Untergrenze sein“, so zitiert Rolfs die Beilage 3/2009 (S. 110, 119) zur Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht, die im Hause Beck erscheint. Rolfs vermutet: „Man darf davon ausgehen, dass er [Waltermann] diese These auch in seinem Gutachten zum DJT vertreten wird.“
User aloa5 machte beim Beck-blog folgenden Einwurf:
„Ich frage mich ernsthaft was ein allgemeiner Mindestlohn – gar in einer fixen Größenordnung – mit Rechtswissenschaft zu tun hat. Es wäre interessant die Herleitung dessen zu lesen. Ich schätze Mal: gar nichts. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung.“
Autor Rolfs antwortete darauf:
„Doch, das hat sehr viel mit Rechtswissenschaft zu tun. Zum Beispiel mit Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), dem Verbot sittenwidriger Löhne (§ 138 BGB) und der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Natürlich sind 7,50 Euro eine ‚gegriffene Größe‘. Aber die (in der zitierten Beilage zu Heft 21/2009 der NZA dokumentierten) Argumente von Herrn Waltermann erfüllen unzweifelhaft wissenschaftliche Ansprüche. Außerdem ist es ja Aufgabe des Deutschen Juristentages, rechtspolitische Vorschläge zu entwickeln. Und die müssen naturgemäß über reine Rechtsdogmatik hinausgehen.“
Dies scheint mir den Einwurf von aloa5 eher zu bestätigen als zu widerlegen, denn in dem Zitat wird einiges in einen Topf geworfen, das besser differenziert würde:
1. Rolfs spricht von der „Aufgabe des Deutschen Juristentages, rechtspolitische Vorschläge zu entwickeln“, während Waltermann in seinem NZA-Beitrag aus „rechtswissenschaftlicher Perspektive“ spricht (meine Hv.).
Ein rechtspolitischer Vorschlag ist aber keine rechtswissenschaftliche Erkenntnis. Wo das Machen von Vorschlägen beginnnt, endet das wissenschaftliche Erkennen. (Unbenommen ist, daß gewisse wissenschaftliche Arbeitstechniken [auf Gegenargumente eingehen, korrekt Zitieren usw.] auch für das Begründen politischer Vorschläge nützlich ist, und zumindest in diesem – begrenzten – Sinne wird Waltermanns Text, der nicht verlinkt ist [und von mir nicht gelesen wurde] sicherlich „wissenschaftlichen Ansprüchen“ genügen. Dies beseitigt aber nicht den Unterschied zwischen Erkennen und Vorschlagen.)
2. Ist es dem JuristInnentag auch unbenommenen, (rechts)politische Vorschläge zu unterbreiten, so ist er doch nicht stärker dazu qualifiziert, politische Vorschläge zu unterbreiten, als bspw. eine Versammlung von Müllmännern oder Putzfrauen oder FußballspielerInnen. Die Verknüpfung von „rechts-“ und „-politisch“ ist keine Rechtfertigung dafür, das Unterbreiten von politischen Vorschlägen – und seien es vom jeweiligen Standpunkt aus noch so richtige Vorschläge – als Artikulation wissenschaftlicher Wahrheiten auszugeben.
Die besondere Kompetenz von JuristInnen besteht nicht darin, zu beurteilen, ob die Forderung nach 7,50 Euro Mindestlohn richtig oder falsch ist, sondern allenfalls darin, die Frage zu beantworten, mit welchen juristischen Instrumenten und Formen sich eine derartige Forderung am besten (am effektivsten) realisieren läßt. (Diese Frage läßt sich nun – anders als die Frage nach der Richtigkeit der Forderung – objektiv beantworten – und zwar ganz unabhängig davon, ob jene politische Forderung für richtig oder falsch gehalten wird.) Und nur in diesem Sinne – i.S.d. der Bezugnahme auf spezifisch juristische Politikinstrumente – hat die Bildung des Kompositums „rechtspolitisch“ Berechtigung.
3. Auch für Rolfs – und nicht nur für Waltermann, der eine „rechtswissenschaftliche Perspektive“ in Anspruch nimmt – scheint das „rechtspolitische Vorschläge“ Machen nur eine Rückzugslinie oder – wie die JuristInnen sagen – ein „Hilfsargument“ zu sein. Das Hauptargument dürfte darin bestehen, daß ein Mindestlohn von 7,50 Euro/Stunde wegen Art. 20 I GG (’sozialer Staat‘)1, Art. 1 III GG2 und § 138 BGB (Nichtigkeit sittenwidriger Verträge)3 rechtlich geboten sei (s. Rolfs‘ Normaufzählung in obigem Zitat).
Auch hier sind Differenzierung notwendig:
a) Soll ein Mindestlohn von 7,50 Euro/Std. verfassungsrechtlich bereits geboten sein und nur noch der deklaratorischen Anerkennung durch den einfachen Gesetzgeber bedürfen? Oder soll sich ein Mindestlohn auch einfachgesetzlich bereits aus § 138 BGB ergeben, sodaß weitere gesetzliche Regelungen bestenfalls Klarstellungsfunktion hätten? Oder geht es nur um die Banalität, daß ein Mindestlohn – zwar nicht bereits rechtliches Gebot ist, aber –, würde er vom Gesetzgeber beschlossen, auch nicht verfassungswidrig wäre? (Ob es für die Begründung dieser Banalität eines Rekurses auf Art. 1 und 20 GG sowie § 138 BGB bedarf, ist allerdings eine ganz andere Frage.)
b) Wie soll sich aus dem Wort „sozial“ in Art. 20 GG und aus der angeblichen „Schutzgebotsfunktion der Grundrechte“ aus Art. 1 GG der Betrag von 7,50 Euro/Stunde ergeben? Warum nicht 10 Euro? Oder 7,47 Euro? Rolfs gibt selbst eine deutliche Antwort: „Natürlich sind 7,50 Euro eine ‚gegriffene Größe‘.“
Das, was sich aus den beiden Normen allenfalls begründen lassen dürfte, ist überhaupt ein Mindestlohn – bei voller politischer Freiheit des Gesetzgebers, dessen Höhe in dieser oder jener Höhe festzulegen, womit ein verfassungsrechtliches Mindestlohngebot unmittelbar kaum mehr als Asche Wert ist.
c) Wie soll aus der Nichtigkeit sittenwidriger Verträgen (+ Schadenersatz für in der Vergangenheit dadurch erlittene Schäden) ein Anspruch auf Mindestlohn in Zukunft folgen?4
4. Mittelbar dürfte allerdings die Anerkennung jener politischen Freiheit des Gesetzgebers – und damit der Verweis auf den politischen Kampf – für eine sozialstaatliche Zügelung des Kapitalismus oder gar eine Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise mehr Wert sein, als ein von Verfassungs wegen bzw. von rechtswissenschaftlichen Voluntarismus wegen geschenkweise ausgeschütteter Mindestlohn von 7,50 Euro/Std.
In der Internationale heißt es insoweit sehr richtig:
„Es rettet uns kein höh‘res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!“
Das gilt nicht nur angesichts Gott, Kaiser und Tribun, sondern auch angesichts einer überschwenglichen ‚Sozialstaats-Religion‘, die die begrenzte Reichweite der Charakterisierung der Bundesrepublick als „soziale[n] Staat“ verkennt.
5. Michel Foucault schrieb 1976:
„Man hörte ihn [den auf Seiten der sog. Linken stehenden Intellektuellen] als Repräsentanten des Universellen, oder er beanspruchte, als solcher Gehör zu bekommen. Intellektueller sein hieß ein wenig das Gewissen aller zu sein. […]. Es ist eine neue Art der Verbindung von Theorie und Praxis entstanden. Die Intellektuellen haben sich angewöhnt, ihre Arbeit nicht mehr im Universellen, im Exemplarischen, im ‚Wahren-und-Gerechten-für-alle’ anzusiedeln, sondern in bestimmten [déterminés] Bereichen, an genauen [précis] Punkte, […]. Damit haben sie mit Sicherheit ein viel konkreteres, unmittelbareres Bewußtsein von den Kämpfen gewonnen. […]. Und diesen Typ würde ich im Gegensatz zum ‚universalen’ Intellektuellen den ‚spezifischen’ Intellektuellen nennen. […]. Es ist zu vermuten, daß der ‚universale’ Intellektuelle, so wie es ihn im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab, von einer recht eigentümlichen historischen Gestalt abstammt, nämlich dem Mann der Gerechtigkeit, […], von dem der der Macht, dem Despotismus, den Mißbräuchen und der Arroganz des Reichtums die Universalität der Gerechtigkeit […] entgegenstellte. Der universale Intellektuelle stammt von dem Rechtskundigen als Würdenträger [juriste-notable] ab und findet seinen vollkommensten Ausdruck im Schriftsteller, dem Träger von Bedeutungen und Werten, in denen sich alle wiedererkennen können. Der spezifische Intellektuelle stammt von einer anderen Figur ab, nicht mehr dem Rechtskundigen als Würdenträger [juriste-notable], sondern dem Wissenschaftler als Experten [savant-expert].“ (1976a, 154, 156 – eigene Übersetzung)
Diese Entwicklung ist bei den deutschen RechtswissenschaftlerInnen – egal, ob politisch auf Seiten der Linken oder der Rechten stehend – nahezu gar nicht angekommen. Es reicht den allermeisten von ihnen nicht, als JuristInnen die geltenden Gesetze, einschließlich der Verfassung, zu erkennen, und als BürgerInnen politische Vorschläge zu unterbreiten, sondern sie beanspruchen für ihre politischen Vorschläge nicht weniger, als daß diese ‚das Recht‘ / ‚die Gerechtigkeit‘ seien (und viele PolitikerInnen – ebenfalls auf Seiten der Rechten und der Linken – übertreffen die JuristInnen in dieser JuristInnen-Ideologie noch). Rolfs Verwischung des Unterschiedes zwischen der Interpretation juristischer Normen und dem Unterbreiten und Begründen politischer Vorschläge zeigt dies wieder einmal. -
Angemerkt sei noch, daß mir die Mindestlohn-Forderung politisch durchaus richtig zu sein scheint (ich hatte dies kürzlich im Kontrast zur Existenzgeldforderung begründet). Weder richtig noch zutreffend erscheint mir dagegen, eine erst noch durchzusetzende Forderung mit dem geltenden Recht zu verwechseln.
► zur Kritik der paternalistischen Umdeutung von BürgerInnenrechten gegen den Staat in Schutzpflichten des Staates:
Erhard Denninger: Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung. Zur Entwicklung der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: Juristenzeitung 1975, 546 – 550.
► zum Unterschied zwischen Recht erkennen und Recht schaffen:
meinen Aufsatz: ‚Removing some rubbish’. Radikale Philosophie und die Konstituierung einer Wissenschaft vom Juridischen, in: Pia Paust Lassen / Jörg Nowak / Urs Lindner (Hg.), Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit (Festschrift für Frieder Otto Wolf), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2008, 332 – 352.
Vgl. auch einige Aufsätze in dem von mir mit herausgegebenen Sammelband Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie?
► zur Kritik der JuristInnen-Ideologie:
Friedrich Engels / Karl Kautsky, Juristen-Sozialismus, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke. Bd. 21, Dietz: Berlin, 8. Aufl.: 1984 (1. Aufl. 1962), 491 – 509.
► zum Verhältnis von Rechtspolitik und Kapitalismus-Kritik:
meinen Text: Warum Globale Soziale Rechte nicht antikapitalistisch sind, aber linke Politik trotzdem Rechtsforderungen braucht.
- „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ (Art. 20 I GG). [zurück]
- „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ (Art. 1 III GG). Von ‚Schutz‘ ist dort allerdings nicht die Rede, sondern schlicht von ‚Bindung‘. Von ‚Schützen‘ ist dagegen speziell in Bezug auf die Menschenwürde (aber nicht die Grundrechte im allgemeinen) in Art. 1 I 2 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“) die Rede. Art. 1 I 2 GG gehört allerdings nicht zu den Art. 1 III GG nachfolgenden Grundrechten, sodaß das Schutzgebot des Art. 1 I 2 GG gerade nicht unmittelbar geltendes Recht ist. [zurück]
- „(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig. (2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.“ (§ 138 BGB). [zurück]
- Dem Käufer der Arbeitskraft kann nicht ohne nährere Anhaltspunkte – einfach ins Blaue hinein – unterstellt werden, er hätte den Vertrag auch mit anderer Lohnhöhe geschlossen.
Vgl. § 139 BGB („Ist ein Teil eines Rechtsgeschäfts nichtig, so ist das ganze Rechtsgeschäft nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass es auch ohne den nichtigen Teil vorgenommen sein würde.“) und § 140 BGB („Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts, so gilt das letztere, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde.“). [zurück]
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