Vorbemerkung: „Diktatur des Proletariats“ bedeutet im klassischen marxistischen Sprachgebrauch nicht Dikatur im staatsrechtlichen Sinne, sondern Klassenherrschaft. Auch eine parlamentarische Demokratie mit Parteienpluralismus, freien, gleichen und geheimen Wahlen sowie weiteren civil rights & liberties ist im Sinne dieses Sprachgebrauchs eine Diktatur der Bourgeoisie. Entsprechend ist auch mit dem Ausdruck Diktatur des Proletariats nicht vorab entschieden, in welchen juristischen und politischen Formen diese ausgeübt wird.
Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 10. Juli 1918
„Artikel 9. Die Hauptaufgabe der für den gegenwärtigen Augenblick des Übergangs bestimmten Verfassung der Russischen Föderativen Sowjetrepublik besteht in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats und der ärmsten Bauernschaft in der Form der mächtigen gesamtrussischen Sowjetmacht zur völligen Niederhaltung der Bourgeoisie, zur Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zur Errichtung des Sozialismus, unter dem es weder eine Teilung in Klassen noch eine Staatsmacht geben wird.“
(Quelle: http://www.verfassungen.net/rus/rsfsr18-index.htm)
Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) vom 11. Mai 1925
„Artikel 1. Die vorliegende Verfassung (das Grundgesetz) der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik geht aus von den Grundbestimmungen der von dem III. Allrussischen Sowjetkongress Sowjet angenommenen Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, sowie von den Grundlagen der von dem V. Allrussischen Sowjetkongress angenommenen Verfassung (des Grundgesetzes) der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und hat die Aufgabe, die Diktatur des Proletariats zur Unterdrückung der Bourgeoisie, zur Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zur Verwirklichung des Kommunismus, bei dem es weder eine Klasseneinteilung noch eine Staatsgewalt geben wird, zu gewährleisten.“
(Quelle: http://www.verfassungen.net/rus/rsfsr25-index.htm)
In der
Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Stalin-Verfassung) vom 5. Dezember 1936
tauchte die Diktatur des Proletariats dagegen nur noch rückblickend auf, die etwas bewirkt habe – nämlich das Wachstum und die Stärke der Sowjets:
„Artikel 2. Die politische Grundlage der UdSSR bilden die Sowjets der Deputierten der Werktätigen, die im Ergebnis des Sturzes der Macht der Gutsbesitzer und Kapitalisten und der Eroberung der Diktatur des Proletariats gewachsen und erstarkt sind.“
(Quelle: http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm)
Zur Begründung führte Stalin in seinem Bericht auf dem Außerordentlichen VIII. Sowjetkongress der UdSSR am 25. November 1936 aus:
„Die Klasse der Gutsbesitzer war bekanntlich schon mit der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges liquidiert worden. Was die anderen Ausbeuterklassen betrifft, so haben sie das Schicksal der Klasse der Gutsbesitzer geteilt. Verschwunden ist die Kapitalistenklasse in der Industrie. Verschwunden ist die Kulakenklasse in der Landwirtschaft. Verschwunden sind die Händler und Spekulanten auf dem Gebiete des Warenumsatzes. Alle Ausbeuterklassen sind somit liquidiert. […]. Also gibt es keine Kapitalistenklasse mehr, von der die Arbeiterklasse ausgebeutet werden könnte. Also ist unsere Arbeiterklasse der Produktionsmittel und -instrumente nicht nur nicht beraubt, sondern im Gegenteil, sie besitzt sie gemeinsam mit dem ganzen Volke. Da sie sie aber besitzt und die Kapitalistenklasse liquidiert ist, so ist jede Möglichkeit ausgeschlossen, die Arbeiterklasse auszubeuten. Kann man danach unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es ist klar, dass man es nicht kann. Marx hat gesagt: Um sich zu befreien, muss das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zerschmettern, den Kapitalisten die Produktionsmittel und -instrumente wegnehmen und jene Produktionsverhältnisse abschaffen, die das Proletariat erzeugen. Kann man sagen, dass die Arbeiterklasse der Sowjetunion diese Bedingungen ihrer Befreiung schon verwirklicht hat? Das kann man und muss man unbedingt sagen.“
In dem Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees an den XVIII. Parteitag der KPdSU bekräftigte Stalin knapp 3 Jahre später, am 10. März 1939:
„Die Besonderheit der Sowjetgesellschaft der Gegenwart besteht zum Unterschied zu jeder kapitalistischen Gesellschaft darin, dass es in ihr keine antagonistischen, feindlichen Klassen mehr gibt; die Ausbeuterklassen sind liquidiert, und die Arbeiter, die Bauern und die Intelligenz, die die Sowjetgesellschaft bilden, leben und wirken auf der Grundlage freundschaftlicher Zusammenarbeit. Während die kapitalistische Gesellschaft von unversöhnlichen Gegensätzen – zwischen Arbeitern und Kapitalisten, Bauern und Gutsbesitzern zerrissen wird, was ihre innere Lage so unsicher macht, kennt die vom Joche der Ausbeutung befreite Sowjetgesellschaft solche Gegensätze nicht, ihr sind Klassenzusammenstöße fremd, sie bietet das Bild freundschaftlicher Zusammenarbeit der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz. Auf der Grundlage dieser Gemeinschaft entwickelten sich solche Triebkräfte wie die moralische und politische Einheit der Sowjetgesellschaft, die Freundschaft der Völker der Sowjetunion, der Sowjetpatriotismus. Auf dieser Grundlage entstanden auch die Verfassung der Sowjetunion, die im November 1936 angenommen worden ist, sowie die volle Demokratisierung der Wahlen zu den obersten Organen des Landes.“
Und wenn die inneren Verhältnisse in der Sowjetunion dermaßen von Harmonie gekennzeichnet sind, dann ‚konnten‘ die Konflikte innerhalb der Partei nur das Produkt äußeren Einflusses – das Werk von „Spionen“ – sein und deren gewaltsame Unterdrückung nicht die geringsten Zweifel an der inneren Harmonie in der SU hervorrufen:
„Einige Vertreter der ausländischen Presse schwatzen davon, die Säuberung der Sowjetorganisationen von Spionen, Mördern und Schädlingen vom Schlage eines Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Jakir, Tuchatschewski, Rosenholz, Bucharin und anderen Ungeheuern hätte das Sowjetsystem ‚erschüttert‘, hätte ‚Zersetzung‘ in dieses hineingetragen. Dieses alberne Geschwätz ist nur wert, dass man sich darüber lustig macht. Wie kann die Säuberung der Sowjetorganisationen von schädlichen und feindlichen Elementen das Sowjetsystem erschüttern und zersetzen? Das trotzkistisch-bucharinsche Häuflein von Spionen, Mördern und Schädlingen, das vor dem Ausland auf dem Bauche kroch, von dem sklavischen Gefühl devoter Ergebenheit gegenüber jeder ausländischen Beamtenkreatur durchdrungen und bereit war, für sie Spionagedienste zu leisten, dieses Häuflein von Leuten, das nicht begriff, dass der letzte Sowjetbürger, frei von den Ketten des Kapitals, turmhoch über jeder ausländischen hochgestellten Beamtenkreatur steht, die das Joch der kapitalistischen Sklaverei auf ihren Schultern trägt, – wer braucht diese jämmerliche Bande käuflicher Sklaven, welchen Wert kann sie für das Volk darstellen und wen vermag sie zu ‚zersetzen‘? Im Jahre 1937 wurden Tuchatschewski, Jakir, Uborewitsch und andere Ungeheuer zur Erschießung verurteilt. Danach fanden die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR statt. Die Wahlen brachten der Sowjetmacht 98,6 Prozent der Stimmen aller Wahlteilnehmer. Anfang 1938 wurden Rosenholz, Rykow, Bucharin und andere Ungeheuer zur Erschießung verurteilt. Danach fanden die Wahlen zu den Obersten Sowjets der Unionsrepubliken statt. Die Wahlen brachten der Sowjetmacht 99,4 Prozent aller Stimmen der Wahlteilnehmer. […]. Die Aufgaben der Partei auf dem Gebiet der Innenpolitik sind: […]. 4. Unsere sozialistische Verfassung unentwegt durchzuführen, die Demokratisierung des politischen Lebens des Landes restlos zu verwirklichen, die moralische und politische Einheit der Sowjetgesellschaft und die freundschaftliche Zusammenarbeit der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz zu festigen, die Freundschaft der Völker der Sowjetunion in jeder Weise zu festigen, den Sowjetpatriotismus zu entwickeln und zu pflegen.“
(Quelle: http://www.stalinwerke.de/band14/b14-016.html)
II. Stellungnahmen
Dominique Lecourt, Proletarische Wissenschaft? Der „Fall Lyssenko“ und der Lyssenkismus (Reihe Positionen Band 1, hrsg. von Peter Schöttler), VSA: [West]berlin, 1976 (frz. Originalausgabe: Maspero, Paris, 1976), S. 132:
„1936 [hatte man] proklamiert und sogar in der Verfassung der UdSSR fixiert […], daß der Klassenkampf ebendort verschwunden sei! […] in [d]em Land, von dem Stalin behauptete, daß dort der Klassenkampf überholt, also abwesend sei, wo es als abgemacht galt, daß er im Laufe des ’sozialistischen Aufbaus‘ erloschen war, […]“
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Étienne Balibar, Über die Diktatur des Proletariats. Mit Dokumenten des 22. Parteitages der KPF (Reihe Positionen Band 2 hrsg. von Peter Schöttler), VSA: Hamburg / Westberlin 1977 (frz. Originalausgabe: Paris: Maspero 1976), S. 23 – 25:
„Es waren die sowjetischen Kommunisten unter der Führung Stalins selbst, die historisch als erste den Begriff der Diktatur des Proletariats explizit und argumentativ ‚aufgegeben‘ haben. Dies geschah 1936 anläßlich der Verabschiedung der neuen sowjetischen Verfassung. Die Verfassung von 1936 proklamierte weniger als 20 Jahre nach der Oktoberrevolution feierlich das Ende des Klassenkampfes in der UdSSR. Nach Stalin, der dabei die treibende Kraft [24] war und die Grundlagen dessen erstellte, was noch heute die offizielle Staatstheorie der UdSSR bildet, gab es in der Sowjetunion zwar noch verschiedene Klassen: Arbeiterklasse, Sowchose- und Kolchosebauern, Intellektuelle und Kader der Produktion oder des Staates. Aber diese Klassen waren nicht mehr antagonistisch, sie gingen gleichberechtigt in einer Einheit auf, einer Klassenallianz, die die Grundlage des sowjetischen Staats bildete. Von nun an hatte es der sowjetische Staat nicht mehr mit Klassen als solchen zu tun, sondern, jenseits aller Unterschiede, mit Individuen, die allesamt Bürger, Arbeiter waren. Er wurde zum Staat des ganzen Volkes.
Man konnte sich bereits – und retrospektiv kann man es immer noch – nach der Gültigkeit (und sogar der Aufrichtigkeit) dieser Behauptung: ‚Die Klassenwidersprüche sind verschwunden‘ fragen. Sie tauchte kaum einige Jahre nach z. B. der landwirtschaftlichen Kollektivierung auf, die einen Zusammenstoß der Klassen entfesselte, der ebenso heftig war wie der der revolutionären Periode, in der der sozialistische Staat den Widerstand der kapitalistischen Bauernschaft der Kulaken und ohne Zweifel auch den der gesamten Masse der armen Bauern und Mittelbauern mit Hilfe aller Propaganda- und Zwangsmittel hat brechen müssen. Und vor allem tauchte sie in genau dem Augenblick auf, als sich im gesamten Land und in allen Klassen das entwickelte, was wir heute als blutige Massenunterdrückung kennen, wovon die großen ‚Moskauer Prozesse‘ nur die sichtbarste und spektakulärste Seite bildeten. Wie läßt sich auf materialistische Weise diese (gerade erst beginnende!) Unterdrückung erklären, wenn man sie nicht an das Fortbestehen, an die Entwicklung eines vielleicht nicht vorausgesehenen, nicht gebändigten, aber umso realeren Klassenkampfs bindet? Wie soll man die Verkündigung des ‚Endes‘ der Klassenkämpfe und die administrative Entscheidung, die Diktatur des Proletariats zu beenden, anders verstehen denn als verblüffende Verneinung der tatsächlichen Verhältnisse, deren mystifizierende Effekte eine tragische theoretische und praktische Abweichung überlagerten und sie damit verstärkten und herauskristallisierten. Allein dieses Beispiel würde, falls überhaupt nötig, ausreichen, um uns darauf hinzuweisen, daß die Aufgabe des Begriffs der Diktatur des Proletariats überhaupt keine Garantie gegenüber der Gewalt der Geschichte darstellen kann; es kann uns sogar fürchten lassen, [25] daß deren Ausbruch unter diesen Umständen unendlich brutaler, schädlicher für das Volk und die Revolution sein kann.
Natürlich, Stalin verwarf nicht retrospektiv die Diktatur des Proletariats (er benutzte sie im Gegenteil, um insgesamt die Geschichte der vorhergehenden Jahre zu rechtfertigen und zu idealisieren): er erklärte einfach, daß die Sowjetunion sie beendet hatte. Und ließ also damit deren Notwendigkeit völlig unangetastet… für die anderen, für alle anderen Länder, die ihre Revolution noch herbeizuführen hatten. Die besondere Art und Weise, in der er das Ende der Diktatur des Proletariats verkündete, gestattete also zugleich, die von der Sowjetunion ausgeübte Rolle als ‚Modell‘ für alle noch kommenden sozialistischen Revolutionen zu rechtfertigen.
Wenn die stalinsche Rechtfertigung des Begriffs ‚Staat des ganzen Volkes‘ – mit gutem Grund – die zugespitzten Formen des Klassenkampfes in der UdSSR vollständig ignorierte, so schob sie sich trotzdem das Verdienst zu, formal die durch eine solche Entscheidung aufgeworfenen theoretischen Probleme vom marxistischen Standpunkt aus zu erkennen und zu diskutieren. Tatsächlich hatten Marx, Engels und Lenin gezeigt, daß die Existenz des Staates nur an den Klassenantagonismus gebunden ist, und sie sprachen vom Verschwinden der Klassenspaltung und vom ‚Absterben des Staates‘ als den beiden untrennbaren Aspekten eines einzigen historischen Prozesses. In ihrer Perspektive konnte die Diktatur des Proletariats, die den notwendigen Übergang zum Verschwinden der Klassen bildet, nur mit diesen gemeinsam aufhören; sie konnte nicht zur Verstärkung und Verewigung des Staatsapparates führen, sondern im Gegenteil zu dessen Verschwinden, selbst wenn dies tatsächlich nur nach einem langen Zeitraum geschehen sollte.“ (Hv. i.O.)
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Dominique Lecourt, Stalin. Enzyklopädische Notiz, in: Moderne Zeiten 12/1982, S. 49 – 52 (52):
„So erklärte er [Stalin] schon 1936 und dann vor allem 1939 in seinem Bericht für den XVIII. Parteitag, daß ‚bestimmte allgemeine Thesen des Marxismus nicht bis zu Ende ausgearbeitet und unzureichend sind.‘ Stalin schlägt dann vor, diese Lücke dadurch zu schließen, daß er die Grundlage der Existenz eines Staates und eines riesigen Staatsapparates nicht in den sozialen Verhältnissen innerhalb der Sowjetunion sieht – von denen unterstellt wird, daß sie Verhältnisse der ‚brüderlichen Zusammenarbeit‘ sind –, sondern dafür eine externe Ursache verantwortlich macht: die kapitalistische Einkreisung. Der proletarische Staat wird demgemäß – nicht ohne Zynismus – als ein ‚Staat des ganzen Volkes‘ beschrieben, in dem ‚die Unterdrückungsfunktion von der Funktion des Schutzes des Eigentums gegen Diebe und gegen Vergeuder des öffentlichen Eigentums abhängig [sei, TaP]. Die Funktion der militärischen Landesverteidigung gegen Aggressionen von außen ist uneingeschränkt erhalten geblieben. Demgemäß hat man die Rote Armee beibehalten, die Kriegsmarine und die Strafverfolgungsorgane sowie die Nachrichtendienste, die erforderlich sind, um die Spione, die Mörder und die Saboteure zu fangen und zu züchtigen, die von den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden.‘ Ein weiteres Mal wird so die ‚Theorie‘ aufgerufen, nachträglich eine blinde politische Praxis zu rechtfertigen.“
III. Anmerkungen
1. Zu dem zuletzt angeführten Lecourt-Zitat
Das Zitat im Zitat ist anscheinend aus dem Frz. ins Dt. übersetzt. In der dt. Ausgabe der Stalin-Werke lautet die Passage im Kontext:
„Die Funktion der militärischen Unterdrückung innerhalb des Landes kam in Wegfall – starb ab –, denn die Ausbeutung ist vernichtet, Ausbeuter gibt es keine mehr und daher auch niemanden, der zu unterdrücken wäre. Anstelle der Funktion der Unterdrückung erhielt der Staat die Funktion, das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern des Volksguts zu schützen. Die Funktion des militärischen Schutzes des Landes vor Überfällen von außen blieb völlig erhalten, es blieben folglich auch die Rote Armee, die Kriegsmarine, ebenso wie die Straforgane und der Abwehrdienst, die notwendig sind zur Aufdeckung und Bestrafung von Spionen, Mördern und Schädlingen, die von den ausländischen Spionagediensten in unser Land geschickt werden. Die Funktion der wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit der Staatsorgane blieb erhalten und kam vollauf zur Entfaltung. Jetzt besteht die Hauptaufgabe unseres Staates im Innern des Landes in der friedlichen wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Arbeit. Was unsere Armee, die Straforgane und den Abwehrdienst anbelangt, so ist nun ihre Spitze nicht nach dem Innern des Landes gerichtet, sondern nach außen, gegen die äußeren Feinde. Wie ihr seht, haben wir jetzt einen völlig neuen, sozialistischen Staat, wie ihn die Geschichte noch nicht gekannt hat, der sich in seiner Form und in seinen Funktionen vom sozialistischen Staat der ersten Phase [nach der Okotober-Revolution, TaP] bedeutend unterscheidet. Doch kann die Entwicklung dabei nicht stehen bleiben. Wir schreiten weiter, vorwärts, zum Kommunismus. Wird bei uns der Staat auch in der Periode des Kommunismus erhalten bleiben? Ja, er wird erhalten bleiben, wenn die kapitalistische Umkreisung nicht beseitigt, wenn die Gefahr kriegerischer Überfälle von außen nicht überwunden wird; dabei ist es klar, dass sich die Formen unseres Staates neuerlich verändern werden, entsprechend den Veränderungen der inneren und äußeren Situation. Nein, er wird nicht erhalten bleiben, sondern absterben, wenn die kapitalistische Umkreisung beseitigt, wenn sie durch eine sozialistische Umwelt abgelöst wird.“
(Quelle: http://www.stalinwerke.de/band14/b14-017.html – Hv. d. TaP).
So wurde die marxistische Erklärung der Existenz des Staates aus den inner-gesellschaftlichen Widersprüchen aufgegeben und durch den Mythos eines nach innen nicht unterdrückerischen Staat ersetzt.
2. Zu dem bei Balibar und Lecourt in doppelten Anführungszeichen stehenden Ausdruck „Staat des ganzen Volkes“
Auch wenn die Ausführungen von Stalin auf diesen Ausdruck hinauslaufen, konnte ich ihn in den von mir herangezogenen Quellen nicht finden.
3. Zu dem Balibar-Zitat
In dem dortigen ersten Satz heißt es: „Es waren die sowjetischen Kommunisten unter der Führung Stalins selbst, die historisch als erste den Begriff der Diktatur des Proletariats explizit und argumentativ ‚aufgegeben‘ haben.“
In der Tat kam der fragliche Begriff als ein solcher, der beansprucht hätte, die damalige sowjetische Gegenwart zu beschreiben, in der Verfassung von 1936 nicht mehr vor. Trotzdem behauptete Stalin, in seiner bereits zitierten Begründung des Verfassungsentwurfes: „Während die vorhergehende Gruppe den Verfassungsentwurf des Verzichts auf die Diktatur der Arbeiterklasse beschuldigt, bezichtigt ihn diese Gruppe im Gegenteil, an der bestehenden Lage in der Sowjetunion nichts zu ändern, die Diktatur der Arbeiterklasse unberührt zu lassen, die Freiheit politischer Parteien nicht zuzulassen und die jetzige führende Stellung der Partei der Kommunisten in der Sowjetunion beizubehalten. Hierbei ist diese Gruppe von Kritikern der Ansicht, der Umstand, dass es in der Sowjetunion keine Freiheit der Parteien gebe, sei ein Kennzeichen dafür, dass die Grundlagen des Demokratismus verletzt würden. Ich muss zugeben, dass der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrechterhält, ebenso wie er die jetzige führende Stellung der Kommunistischen Partei der UdSSR unverändert beibehält. (Stürmischer Beifall). Wenn die verehrten Kritiker dies für einen Mangel des Verfassungsentwurfs halten, so kann man dies nur bedauern. Wir Bolschewiki aber halten dies für einen Vorzug des Verfassungsentwurfs. (Stürmischer Beifall).“
Der genannten „vorhergehende Gruppe“ hatte Stalin zuvor entgegengehalten: Die „Verwandlung der Diktatur in ein elastischeres, folglich mächtigeres System der staatlichen Leitung“ bedeute nicht die Schwächung oder gar Aufgabe dieser Diktatur (http://www.stalinwerke.de/band14/b14-007.html – Hv. d. TaP).
Allerdings hat der Ausdruck „Diktatur“ (ob nun „des Proletariats“ oder „der Arbeiterklasse“) keinen Sinn mehr, wenn es keine (antagonistischen) Widersprüche mehr gibt, sondern nur noch „freundschaftliche Zusammenarbeit“. Stalin scheute hier nur davor zurück, die theoretisch-begriffliche Konsequenz aus einer eigener Argumentation zu ziehen.
4. Alles Lüge?
Bleibt nur die entscheidende Frage: Waren Stalins harmonisierende Rhetorik und sein Anspruch, die „Diktatur der Arbeiterklasse“ zwar nicht abzuschaffen, aber doch immerhin „elastischer“ zu machen, und daß der sowjetische Staat nach innen seine Unterdrückungsfunktion verliere, ‚Lügen‘, die die gegenteilige repressive Praxis verdecken sollten?
Oder gibt es vielmehr einen inneren Zusammenhang zwischen jener Rhetorik und dieser Praxis?
Meine These lautet: Die harmonisierende Rhetorik war der repressiven politischen Praxis, die die Austragung der gesellschaftlichen Konflikte handgreiflich unterband, gerade adäquat! Im Maße der Unfähigkeit oder des Unwillens die Probleme der Zeit in Begriffen von Strukturen und Prozessen, z.B. in Klassenbegriff, zu diskutieren, feierte der sozialdemokratische „Volksstaat“1 als ‚Staat des ganzen Volkes’ (vgl. auch noch: Wahlen zum Obersten Sowjet = „Fest“ bzw. „Triumphtag des ganzen Volkes“ [S. 86]; Verschwinden der „Klassenabgeschlossenheit“, Verschwinden der ökonomischen und politischen Gegensätze [S. 44]) Wiederauferstehung auf den Trümmern des Historischen Materialismus: Gefeiert: Staat und Subjekt in dem „prunkvollen“2 Menschenrechtskatalog der Verfassung von 1936; verantwortlich gemacht: schlechte Subjekte mit bösem Willen: „Agenten“ und „Verräter“ für objektive historische Probleme3.
- S. dazu krit.: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft [Anti-Dühring] (1876/94), in: MEW 20 (9. Aufl.: 1986), 3 – 303 (262); Karl Marx, [Kritik des Gothaer Programms (1875)], in: MEW 19 (1. Aufl.: 1961, 8. Aufl.: 1982), 11 – 32 (27 – 31, bes. 28, 31). [zurück]
- Vgl. ders., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867) = MEW 23 (15 Aufl.: 1984), 320. [zurück]
- Vgl. Grahame Lock, Hintergründe der chinesischen Kulturrevolution, in: Beiträge zum wissenschaftlichen Sozialismus (VSA: [West]berlin/Hamburg), H. 11, April 1977, 105 – 120 (120, FN 19):
„Der Leser könnte einwenden, daß Stalin in Wirklichkeit vom Klassenkampf überzeugt war – und genau die angebliche Verschärfung des Klassenkampfs bildete seine Entschuldigung für Morde. Der Punkt ist aber, daß er spätstens seit 1936 die Existenz eines wesentlichen inneren Klassenkampfes leugnete. Darum (miß)verstand er den in der UdSSR stattfindenden Kampf überwiegend als Schlacht des ganzen Sowjetvolkes gegen den Imperialismus […]. So wurde er als Kampf gegen eine Handvoll ‚Verräter‘ verstanden (wie oft wurden die Angeklagten der Schauprozesse als ausländische Agenten bezeichnet?!). Das Ergebnis war daher nicht politischer Massenkampf, sondern die Polizeiaktion: Prozesse, Deportationen, Arbeitslager… Was hätte mehr der Logik entsprochen?“ – der juristischen Logik individuell verantwortlicher Subjekte – statt der Logik gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse sowie politischer Kämpfe.
S.a. ders., Humanismus und Klassenkampf in der kommunistischen Geschichte, in: ebd., H. 8, Sept./Okt. 1976, 178 – 197 (183 f. und 187 vor FN 18). [zurück]
btw.: Klaus Holz arbeitet, wenn ich mich richtig erinnere, in Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung an Hand der Schauprozesse nach 1945 heraus, dass eben jener Schwenk von der Klasse zum Volk eine Konstruktion des „Antivolks“ und somit eine offen antisemitische Politik (und auch die Deportationen sog. Verraetervoelker 1943/44?!) ermoeglichte … einer der Hauptautoren der 1936 war ansonsten Bucharin
Vielen Dank für den Hinweis.
Hört sich interessant an.