[Ich hatte kürzlich meine Diplomarbeit aus dem Jahre 1996 zum Thema „Pluralismus und Antagonismus. Eine Rekonstruktion postmoderner Lesweisen“ online zugänglich gemacht. Ich bringe hier einen remix einer Passage von S. 86 f. Ich setze hier die Fußnote 123, die dort hinter dem Doppelpunkt am Ende des ersten Satzes und vor dem folgenden Poulantzas-Zitat steht, in den Haupttext ans Ende der fraglichen Passage. In der ursprünglichen Fassung ging es dort statt dessen mit Überlegungen zu anderen Aspekten weiter. Dies war der Grund dafür, daß der hier ‚aufgewertete’ Text dort in die fragliche Fußnote verbannt wurde.
Anzumerken ist noch, daß der hier kritisierte Relativismus in Erkenntnisfragen strikt vom – angesichts widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhältnisse: notwendigen – Relativismus in politischen Bewertungsfragen zu unterscheiden ist.]
Es macht zwar politisch einen bedeutenden Unterschied, ob man/frau sich auf den historizistisch-relativistischen Wahrheits-Begriffs von Bogdanow, Stalin oder auch Lukács einerseits oder Gramscis andererseits bezieht; die zugrundeliegende theoretische Konzeption bleibt aber (schließlich auch in Foucaults Version des wissenschaftstheoretischen Relativismus) die gleiche: „Die historizistische Ideologieauffassung ist […] noch klarer [als bei Marcuse, d. Vf.] bei dem typischen Beispiel von Lukács und seiner Theorie von ‚Klassenbewußtsein’ und ‚Weltanschauung’. Es lohnt sich, dabei zu verweilen, da sie klar das Problem der erkenntnistheoretischen Prämissen einer historizistischen Betrachtungsweise der Ideologie erkennen läßt. Sie ist um so wichtiger, als infolge Gramscis Historizismus, […] die Mehrzahl der marxistischen Theoretiker den Begriff der Hegemonie in einer Bedeutung gebrauchen, die mit der Problematik Lukács’ verwandt ist.“ (Poulantzas 1968, 195 – Hv. d. Vf.).
Diese Position leugnet die die Realität der objektiven Außenwelt1 und kann deshalb keinen Unterschied zwischen ideologischen und wissenschaftlichen Diskursen machen kann (Althusser 1966/68, 174, 176-180); die „besondere Geschichte der Wissenschaft [wird] auf die Geschichte der organischen Ideologien und die ökonomisch-politische Geschichte zurück[ge]führt“ (Althusser 1966/68, 178; ähnlich Poulantzas 1968, 195 f. mit FN 5).
Die historizistische Ideologieauffassung beinhaltet eine „Identifizierung der Ideologie und der Wissenschaft, d.h. die Auffassung, daß sie [die Ideologie, d. Vf.] die Wissenschaft umfaßt“. Der „Charakter der Ideologie als Ausdruck des Subjekts“ umfasst nach historizistischer Auffassung „in dem Falle die Objektivität der Wissenschaft, wo die subjektive Weltanschauung einer ‚aufsteigenden Klasse’ die Totalität der Gesellschaftsformation einschließt. Bekannt ist der Aspekt des Arguments, den Lukács, Korsch u.a. auf das Proletariat und die ‚proletarische Wissenschaft’ anwandten: Da das Proletariat seinem Wesen nach eine universale Klasse ist, hat sein subjektives Bewußtsein universalen Charakter; aber ein universales subjektives Bewußtsein ist zwangsläufig objektiv, also wissenschaftlich“ – so Lukács, Korsch und andere (Poulantzas 1968, 196, FN 5).
In Rußland bzw. der Sowjetunion wurde diese Auffassung sowohl von dem ‚Links’kommunisten Bogdanow wie auch von Stalin vertreten:
„Es ist nicht uninteressant, daß die Gegenüberstellung von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft […] die unbewußte, versteckte oder verleugnete Rückkehr eines Themas ist, daß bereits bei Bogdanow, […] präsent ist und dann in verschiedenen Publikationen des Proletkult entfaltet wird. Der Ausschluß, mit dem der Stalinismus diese Strömung bestraft hat, aber auch die heftige Kritik von Lenin und Plechanow an Bogdanow scheinen nur zum Verschwinden des Wortes ‚proletarische Wissenschaft’ geführt zu haben, ohne an der Grundthese zu rütteln: […] Die sowjetischen Texte bewegen sich dann tatsächlich in einer Opposition zwischen ‚bürgerlicher’ und ‚reiner’ Wissenschaft und entwickeln dabei die These eines Verfalls der Wissenschaft wie der Kultur im imperialistischen Stadium des Kapitalismus. […]. Der Kern der Argumentation bleibt dabei in Fällen der gleiche. […]: Die Wissenschaft ist historisch relativ, weil das Bewußtsein der Menschen sich fortentwickelt […]. […] die historische Relativität der Wissenschaft [spiegelt] deren Klasseninhalt wider. […]. Die gesellschaftlich-historischen Umstände, unter denen eine wissenschaftliche Theorie entstand, werden dann als letzte Ursache dieser Theorie behandelt, […]. Die Wissenschaft würde also der ‚aufsteigenden’ Klasse gehören, deren Interesse mit der prometheischen Bestimmung des Menschen zusammenfällt.“ (Bras 1985, 1083, 1984 – Hv. i.O.; vgl. auch Lecourt 1976, 126 oben, 130, 140-142, FN 21).
Schließlich folgt auch die Wissenssoziologie dem gleichen Modell. Sie verortet die vermeintliche Wahrheit allerdings nicht bei einer (‚aufsteigenden’) Klasse, sondern bei der „freischwebenden Intelligenz, die ‚relativ unrelativ’, d.h. nicht hauteng mit Klasseninteressen verflochten“ sei (Hauser 1987, 74; vgl. Eagleton 1991, 129 oben; s.a. außerdem zum Verhältnis: Lukács – Wissenssoziologie: Hauser 1987, 74; Eagleton 1991, 128, Abs. 2).
S. schließlich zur Bedeutung von Lukács bzw. des Hegel-Marxismus für feministische Standpunkttheorien: Seifert 1992, 258; Grimm 1994b, 156 f.; zur Bedeutung der Wissenssoziologie (Mannheim, Berger/Luckmann) für (feministische und afrozentrische) Standpunkt-Epistemologien: Collins, 1989, 20-23; 46, FN 16; 47 f., FN 22, 28.
- „Der metaphysisch-materialistische Begriff des ‚Objektiven’ will anscheinend eine Objektivität bedeuten, die auch außerhalb des Menschen besteht, doch wenn man behauptet, daß eine Realität existieren würde, auch wenn der Mensch gar nicht existierte, bildet man entweder eine Metapher oder verfällt in eine Form von Mystizismus. Wir erkennen die Realität nur in Beziehung zum Menschen, und da der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, sind auch Erkenntnis und Realität ein Werden, ist auch Objektivität ein Werden usw.“ (Gramsci 1932/33, 1412). Dazu ist anzumerken: 1. Das, was Gramsci Mystizismus nennt ist nichts anderes, als die Kränkung der humanistischen Eitelkeit, die nicht ertragen kann, daß ‚der Mensch’ nicht Ursprung und Zentrum der Welt ist (vgl. Lenin 1914, 117 f.; Althusser 1967, 90, 93 f.). – Einer Postmoderne, die die Kränkung der menschlichen Eitelkeit immerhin zum Programm erhoben hat, sollte dies vielleicht ein Anlaß sein, ihre Position zur ‚Realität der Außenwelt’ noch einmal zu überdenken. 2. Die Geschichtlichkeit/Relativität der Objektivität/Realität, impliziert nicht die Relativität/Geschichtlichkeit der Erkenntnis. Eine Aussage ist vielmehr nur dann wahr = eine Erkenntnis, wenn sie die Realität in ihrer Geschichtlichkeit erkennt. 3. Trotzdem hat Gramsci recht, daß auch die „Erkenntnis […] ein Werden“ ist, nämlich die Praxis der Wissenschaften. Daraus abzuleiten, daß das zu Erkennende nicht existiert, ist aber nur eine Wiederholung des schon von Lenin kritisierten Fehlers der Verwechselung des Verhältnisses von absoluter und relativer Wahrheit im Prozeß der wissenschaftlichen Praxis mit der Frage Existenz der objektiven Realität (Lenin 1914, 116 unten; vgl. Ebert 1995, 45). [zurück]
Könntest Du eine exakte Quelle für den Begriff „proletarische Wissenschaft“ angeben? Wo verwendet ihn z.B. Korsch?
Jein, leider nennt Poulantzas an der von mir zitierten Stelle keine genaue Quelle (s. aber hier am Ende).
Bei Althusser findet sich noch Folgendes (allerdings ebenfalls ohne Fundstelle):
„I have said why and how the historicist-humanist interpretation of Marxism came to birth in the portents and in the wake of the 1917 Revolution. Its significance then was that of a violent protest against the mechanicism and opportunism of the Second International. It appealed directly to the consciousness and will of men to reject the War, overthrow capitalism and make the revolution. It rejected absolutely anything, even in theory, which might defer or stifle this urgent appeal to the historical responsibility of the real men hurled into the revolution. In the same movement, it demanded the theory of its will. That is why it proclaimed a radical return to Hegel (the young Lukács and Korsch) and worked out a theory which put Marx’s doctrine into a directly expressive relationship with the working class. From this period, too, dates the famous opposition between ‚bourgeois science‘ [141] and ‚proletarian science‘, in which triumphed an idealist and voluntarist interpretation of Marxism as the exclusive product and expression of proletarian practice. This ‚left-wing‘ humanism designated the proletariat as the site and missionary of the human essence. The historical role of freeing man from his ‚alienation‘ was its destiny, through the negation of the human essence whose absolute victim it was. The alliance between the proletariat and philosophy announced in Marx’s early texts was no longer seen as an alliance between two mutually exclusive components, The proletariat, the human essence in revolt against its radical negation, because the revolutionary affirmation of the human essence: the proletariat was thus philosophy in deed and its political practice philosophy itself. Marx’s role was then reduced to having conferred on this philosophy which was acted and lived in its birth-place, the mere form of self-consciousness. That is why Marxism was proclaimed ‚proletarian‘ ’science‘ or ‚philosophy‘, the direct expression, the direct production of the human essence by its sole historical author: the proletariat. Kautsky’s and Lenin’s thesis that Marxist theory is produced by a specific theoretical practice, outside the proletariat, and that Marxist theory must be ‚imported ‘ into the proletariat, was absolutely rejected — and all the themes of spontaneism rushed into Marxism through this open breach: the humanist universalism of the proletariat. Theoretically, this revolutionary ‚humanism‘ and ‚historicism‘ together laid claim to Hegel and to those of Marx’s early texts then available. As for its political effects, some of Rosa Luxemburg’s theses on imperialism and the disappearance of the laws of ‚political economy‘ in the socialist regime; the Proletkult; the conceptions of the ‚Workers‘ Opposition‘, etc.; and in a general way the ‚voluntarism‘ which deeply marked the period of the dictatorship of the proletariat in the USSR, even in the paradoxical forms of Stalinist dogmatism. Even today, this ‚humanism‘ and ‚historicism‘ find genuinely revolutionary echoes in the political struggles waged by the people of the Third World to conquer and defend their political independence and set out on the socialist road. But these ideological and political advantages themselves, as Lenin admirably discerned, are offset by certain effects of the logic that they set in motion, which eventually and inevitably produce idealist and empiricist temptations in economic and political conceptions and practice — if they do not, given a favourable conjuncture, induce, by a paradoxical but still necessary inversion, conceptions which are tainted with reformism and opportunism, or quite simply revisionist.“
(http://www.marx2mao.com/Other/RC68ii.html, S. 140 f.; dt. Das Kapital lesen, S. 188 – 190).
Bei marxists.org ist der Ausdruck allerdings auch schon bei Kautsky (1908) zu finden: „Es bedeutet eine gewaltige Erhebung der Wissenschaft, was Marx mit seiner Geschichtsauffassung bewirkte; das gesamte menschliche Denken und Erkennen mußte dadurch auf das kraftvollste befruchtet werden — aber merkwürdig: Die bürgerliche Wissenschaft verhielt sich völlig ablehnend dagegen, und nur im Gegensatz zu ihr, als besondere, proletarische Wissenschaft konnte die neue wissenschaftliche Auffassung sich durchringen.“ (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1908/marx/marx1.htm)
Und zwei Jahre früher bei Pannekoek (also eher – als Kautsky – die politische Traditionslinie von Korsch): „Die Gebrechlichkeit und Beschränktheit des bürgerlichen Materialismus bestand darin, daß ihm jede Spur der Gesellschaftswissenschaft fehlte. Diese ist ja auch eine speziell proletarische Wissenschaft.“ (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1906/religion/vortrag.htm)
Und noch zwei Jahre früher bei Hilferdings (also wieder die andere Fraktion): „Aber der Nachweis der historischen Vergänglichkeit der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, das bedeutete das Aufhören der Nationalökonomie als bürgerliche Wissenschaft und war die Begründung der Nationalökonomie als proletarische Wissenschaft.“ (http://www.marxists.org/deutsch/archiv/hilferding/1904/xx/boehm-3.htm)
(Die Geschichte des Ausdrucks scheint also erst noch geschrieben werden zu müssen.)
Für den engl. Ausdruck „proletarian science“ finden sich dort jede Menge Fundstellen, u.a. bei Korsch, der den Ausdruck gar mit einer spezifischen Methode (!) verbindet:
„Karl Marx and Frederick Engels simultaneously opposed the new method of proletarian science to the ‚metaphysical mode of thought‘ (‚that specific weakness of thought of the last century‘) and to all earlier forms of „dialectic“ (in particular the idealistic dialectic of Fichte-Schelling-Hegel).“ (http://www.marxists.org/archive/korsch/1923/marxist-dialectic.htm).
„Marx, then, if developing his new socialist and proletarian science, took his …“ (http://www.marxists.org/archive/korsch/1937/restatement.htm und http://www.marxists.org/archive/korsch/1938/karl-marx/ch01.htm)
„Marx’s new socialist and proletarian science which, in a changed historical situation, further developed the revolutionary theory of the classical founders of the doctrine of society, is the genuine social science of our time.“ (http://www.marxists.org/archive/korsch/1938/karl-marx/ch01.htm)
* Insg. 41 Fundstellen:
http://www.google.com/custom?hl=en&cof=L%3Ahttp%3A%2F%2Fwww.marxists.org%2Fadmin%2Fsearch%2Fsearch.jpg%3BLH%3A250%3BLW%3A400%3BGALT%3A%23a00000%3B&domains=www.marxists.org&num=30&ie=ISO-8859-1&oe=ISO-8859-1&q=%22proletarian+science%22+site%3Awww.marxists.org%2F&btnG=Search&sitesearch=www.marxists.org
Großartig! Vielen Dank! Ich fänds wunderbar, Du würdest die Geschichte des Begriffs schreiben! thw