Der Tagesspiegel veröffentlicht ein – anscheinend schon vor der Wahl geschriebenes1 – Papier das in der engeren SPD-Führung kursiere. Geschrieben wurde es dort anscheinend nicht; und es scheint von einer Einzelperson zu sein (an einer Stelle heißt es „m.E.“ = „meines Erachtens“).
Neben zumindest für mich neuem Klatsch (Platzeck trat damals gar nicht aus gesundheitlichen, sondern aus politischen Gründen zurück), enthält der Text einige durchaus interessante Überlegungen, die deutlich machen, worin eine SPD-Kurskorrektur maximal bestehen wird und welche strategischen Optionen in SPD zur Zeit diskutiert werden. Die Grenzen jener etwaigen Kurskorrektur werden auch daran deutlich, daß mit Steinmeier (immerhin Schröders Kanzleramtsminister) als Fraktionschef anscheinend niemand in der SPD Probleme hat, während die Verantwortung auf Müntefering abgeschoben wird, der aus Altersgründen ohnehin früher oder später abtreten würde.
Am Ende des Papiers wird eine Vereinigung von SPD und Linkspartei ins Gespräch gebracht.2
„Korrekturen haben immer etwas Defensives, es sei denn man steht klar zu dem Werk, das man korrigiert. Soviel Vertrauen in die Dialektik ist aber von den Spitzenvertretern der ‚Regierungs-SPD‘ nicht zu erwarten. Bisher jedenfalls haben sie mit ihrem wahltaktisch zeitweise verschleierten Agenda-Fundamentalismus zwei Parteivorsitzende zu Fall gebracht. Matthias Platzeck und Kurt Beck mussten aus unterschiedlichen Gründen aufgeben – der erste, weil er die ‚Verbürgerlichung‘ zu weit zu treiben drohte, der andere, weil er der geschilderten Dialektik aus moderner Reformpolitik und gemäßigt linkem Selbstverständnis zu sehr zu entsprechen schien. Damit ist die Weggabelung benannt, an der die Sozialdemokratie steht.
Es gibt namentlich in der Brandenburger SPD und bei dem Flügel der ‚Netzwerker‘ die Erwartung, dass es auf Dauer zwei linke Parteien geben wird. Davon abgeleitet wird die Empfehlung, die SPD solle sich auf ein aufgeklärtes Bilderbürgertum konzentrieren und traditionell linke und gewerkschaftsnahe Inhalte der vormaligen SED/PDS überlassen.“
„Die SPD wird also klären müssen: Will sie eine Volkspartei der Mitte sein und versteht sie darunter eine Art von CDU/CSU mit dem Unterscheidungsmerkmal ‚regieren können wir besser‘? Will sie eine Arbeitnehmerpartei sein, ihre Tradition hochhalten und einen Platz erkennbar links von der Mitte einnehmen – und was bedeutet es eigentlich, heute Arbeitnehmerpartei zu sein? Wo ist der Platz der SPD in einem stabilen Fünf-Parteiensystem und mit welcher Politik kann man diesen Platz nicht nur behaupten sondern auch wieder groß machen?“
„Auch gut informiert ist die SPD über die politischen Haltungen, die die deutsche Gesellschaft prägen. Es gibt eine solidarische Mehrheit, die die Leistungen des Sozialstaats zu schätzen weiß und das politische Grundbedürfnis ist erstens, zweitens und drittens Sicherheit und viertens Gerechtigkeit. Eine bessere Grundlage für eine begeisterte Übereinstimmung zwischen der Mehrheit und der SPD kann man sich kaum vorstellen. Aber die Mehrheit wählt nicht SPD. Dabei bietet die ‚Deutschlandplan‘ genannte Verdichtung des von der SPD beschlossenen Wahlprogramms eine Politik an, die diesen Grundbedürfnissen durchaus gerecht wird.“
Zu den Gründen, warum sich diese (vermeintliche) Mehrheit nicht in eine SPD-Mehrheit umsetzt, heißt es u.a.:
„Siebtens: die SPD hat kein Gespür: dass sich der Einsatz für Opel und Karstadt nicht auszahlt, liegt daran, dass eine Mehrheit andere Gerechtigkeitsfragen höher gewichtet, als die ‚Gleichbehandlung‘ von Banken mit anderen Großbetrieben; außerdem sehen die Menschen, dass der nun rekordverschuldete Staat schneller an Grenzen stößt, als es den vollmundigen Ankündigungen zu entnehmen ist;
Achtens: die SPD schont das Großkapital. Die HRE war die erste deutsche „bad-bank“, als es so etwas noch gar nicht gab. Sie ist die bislang einzige Bank, an der sich der Bund beteiligt. Die oft zu recht kritisierten „Heuschrecken“ haben diese Wirtschaftskrise nicht verursacht, es waren die als seriös geltenden Banken.
Neuntens: die SPD riskiert ihr Image sowohl als Friedenspartei als auch als Anwältin der Menschenrechte. Wir können nicht langfristig in Afghanistan bleiben; ‚es ist an der Zeit, ein Datum (für den Abzug) zu nennen‘ (Gerhard Schröder). Steinmeiers Entscheidung über Herrn Kurnaz kann man in ihrem zeitlichen Umfeld verstehen und verteidigen (nicht nur, weil 9/11 teilweise von Deutschland aus vorangetrieben wurde, sondern man male sich nur das Geschrei der Union und die Balken in ‚Bild‘ aus, wenn anders entschieden worden wäre), rückblickend war sie falsch. Die Weigerung, sich bei dem schwer Betroffenen zu entschuldigen, kann man schwer als Engagement gegen Folter und für die absolute Priorität rechtsstaatlicher Verfahren verkaufen.
Zehntens: […]. Die SPD ist so kleinmütig, dass sie sich mit dem vorhandenen Rest an Kündigungsschutz zufrieden gibt, von dem jeder außerhalb des öffentlichen Dienstes abhängig Beschäftigte genau weiß, wie wenig Wert der hat; der aber stark genug ist, um kleine Betriebe daran zu hindern, ungeeignete Arbeitnehmer durch leistungsfähigere zu ersetzen. Das beschädigt nebenbei auch die Glaubwürdigkeit der Mittelstandspolitik der SPD.“
„Man kann diese Beispiele zusammenfassen zu dem Befund, dass die ‚Strategie‘ Franz Münteferings auf ganzer Linie gescheitert ist. Nach dem parteipolitischen Desaster der ‚Agenda‘, die erst bei Müntefering den Status einer heiligen Kuh bekommen hat, sollte mit weiteren Regierungsjahren und in der Überzeugung ‚Wahlkampf können wir besser‘, die SPD gerettet werden. Teil dieses Plans war es, die Kritik an der ‚Agenda‘ nur lange genug durchzustehen (andere hätten gesagt: auszusitzen), dann würde das Volk schon eines Tages einlenken.
Spitzt man diese ‚Strategie‘ nur ein wenig zu, so stellte Müntefering der SPD damit einen Wechsel auf die Dummheit der Wählerinnen und Wähler aus. Das mögen die Menschen überhaupt nicht. Erschwerend hinzu kommt, wer Wahlkampf besser kann, muss es nicht nur können, wenn der Spitzenkandidat ein Kämpfer und Alphatier, und der Gegner ein Neuling mit einem unpopulären Programm ist, sondern auch, wenn es sich vier Jahre später mehr oder minder umgekehrt verhält. Das Versprechen konnte der Wiederholungsvorsitzende gar nicht einlösen. Die darum geführten Machtkämpfe haben ihn zwar den Parteivorsitz wieder einnehmen und seine ‚Strategie‘ weiterverfolgen lassen, voran gebracht hat das die SPD aber nicht.“
„Sicher, in Friedenszeiten kann man mit Blut, Schweiß und Tränen keine Wahlen gewinnen. Dass Gegenmodell, die Anmutung, es könne alles so weiter gehen, nur eventuell noch etwas besser, funktioniert aber auch nicht. Mit Recht darf man von der SPD Auskunft über angestrebte Veränderungen und Umgestaltungen erwarten und nicht nur die Verwaltung des Bestehenden.“
„Es gibt den politisch bewussten Nichtwähler zweifellos und sicher gehören dazu Anhänger der SPD, die in ihrer Unzufriedenheit in die Wahlenthaltung flüchten. Die überwältigende Mehrheit der Nichtwähler aber ist inzwischen politisch desintegriert, nicht ansprechbar. Um sie mit Marx und Bebel als „Lumpenproletariat“ abtun zu können, dafür sind es allerdings zu viele. Nötig ist also eine Beschäftigung mit der Frage, ob und wie es Sozialdemokraten gelingen kann, diese Verbindung wieder herzustellen und sich glaubwürdig um diese Menschen zu kümmern. Bloß den soziologischen Begriff der Unterschicht abzulehnen ist kein Ansatz dazu. Andere Ansätze sind aber bislang nicht bekannt geworden.“
„Die Leistungsträger unserer Gesellschaft – das sind alle, die lernen und von ihrer Arbeit leben(wollen) und sich womöglich noch zusätzlich ehrenamtlich engagieren – wollen, dass die SPD ihre Sorgen und Bedürfnisse versteht und eine Politik macht, die die Sorgen möglichst verringert, sie aber auf keinen Fall missachtet. Sauerländische Kleinbürgersprache reicht da nicht.“
„Politische Führung muss sagen können, was Gemeinwohl und was Partikularinteresse ist und darf nicht über jedes Stöckchen springen, das ihr hingehalten wird.“
„Die Professionalisierung der Politik ist so weit fortgeschritten, dass auch sozialdemokratische Politiker keine eigene Erfahrung ‚in der Produktion‘ und keine Ahnung von der Arbeit der Betriebsräte mehr haben. Das hat zuletzt eine politische Entfremdung zwischen SPD und Gewerkschaften verursacht. Eine erneuerte SPD muss Wege finden, auf dem neuesten Stand der Themen und Konflikte in den Betrieben und den Mitbestimmungsgremien zu sein und zu bleiben.“
„Was spricht eigentlich – außer Marktideologie – wirklich dagegen, dass der Staat sich an den Banken und Firmen, die er vor dem Abgrund rettet, im Gegenzug auch beteiligt – zumindest bis die Anteile mit Gewinn verkauft werden können?“
„Trotz dieses langen Sündenregisters ist es nicht der SPD allein an die Hand gegeben, ihren drohenden Untergang abzuwenden. Ob sie beispielsweise tatsächlich zwischen der Linkspartei und der „sozialdemokratisierten“ Union zerrieben wird, hängt auch davon ab, ob die Union tatsächlich sozialdemokratisiert ist. Das weiß man dort selbst noch nicht.“
„muss sich ihren Platz im Parteiensystem schon selbst zurückerobern und dazu muss sie sich in gewisser Weise neu erfinden. Der Agendapolitik mag ein Versuch zur Modernisierung gewesen sein. Der Schuss ging nach hinten los. Nun ist die Not groß. Es muss nicht alles aber vieles auf Anfang gestellt werden. Wenn Personalfragen zu diesem Zweck gestellt würden, bekämen sie Sinn. Denn fraglich ist es ja, ob das jetzige Führungspersonal dazu in der Lage ist – selbst bei bestem Willen.
Einige Beispiele, Vorschläge für das Neu-Erfinden der SPD sind gemacht. Ein denkbares weiteres Ziel wäre die Wiedervereinigung – der gespaltenen Arbeiterbewegung. Bis 2018, hundert Jahre nach Gründung der KPD, könnte es erreichbar sein.“
- Es u.a. hypothetisch: „Vor diesem Hintergrund haben sich manche eine „Regeneration in der Opposition“ gewünscht. Die SPD muss aber so oder so die Kraft finden, ihren Platz im Fünfparteiensystem neu zu definieren. In der Regierungsverantwortung und ohne Chance auf einen personellen Neuanfang ist das zweifellos schwieriger.“ Das Papier wurde vom TSP mit Datum und Uhrzeit „27.9.2009 20:01 Uhr“ online gestellt. Mir ist es allerdings erst jetzt als kleiner linker unter einem anderen Artikel-lead aufgefallen. Einen redaktionellern Bericht scheint es dazu (bisher) nicht zu geben. [zurück]
- Vgl. bereits den Vorstoß des rheinland-pfälzischen JuSo-Vorsitzenden: http://scharf-links.de/90.0.html?&tx_ttnews[pointer]=2&tx_ttnews[tt_news]=6913&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=ae6d5dee47. [zurück]
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