- Antwort auf Barricada -
Barricada hat sich die Mühe einer ausführlichen Antwort auf meine gestrigen Anmerkungen zu dem vorhergehenden Text von Barricada gemacht.
Auf die Nachtarbeit nun also Sonntagsarbeit zur Frage: Linkspartei wählen? Oder besser nicht?
Ich gehe der Einfachheit halber die Argumente von Barricada der Reihe nach durch:
1.
„Vor allem muss hier bedacht werden, dass DIE LINKE in den nächsten Jahren gar nichts anderes tun kann, als ihre politischen Positionen mehr und mehr aufzuweichen (ein Prozess, der ja ohnehin bereits in vollem Gange ist), um sich den Sozialdemokraten und den Grünen als verlässliche Bündnispartnerin zu präsentieren.“
Das halte ich zwar auch eher für wahrscheinlich, aber nicht für ausgemacht. Wenn sich eine starke linke Massenbewegung mit einer Programmatik links vom Linkspartei-mainstrean entwickeln würde, würde vermutlich auch die Linkspartei etwas nach links rücken. Und dem Entstehen einer solchen etwaigen Massenbewegung würde durch das Wählen der Linkspartei nicht geschadet. Vielmehr würde ein schwaches Abschneiden der Linkspartei und ein starkes Abschneiden insb. der FDP auch die allermeisten Kräfte – außer die völlig wirklichkeitsresistenten – links von der Linkspartei demoralisieren. Ein Sieg von Schwarz-Gelb wäre tendenziell ein Schritt zurück zu den ideologischen Verhältnisse vor Seattle.
2.a)
„Dem kann ich insoweit nicht zustimmen, dass sich das ‚kleinere Übel‘ bislang stets als ebenso großes Übel herausgestellt hat, dass der kapitalistischen Gesamtmaschinerie lediglich als Alibi dienen konnte.“
Das wäre nur dann zutreffend, wenn es historisch zum kleinere Übel, einem Reform-Kapitalismus, jeweils die reale Alternative ‚Beseitigung der ‚kapitalistischen Gesamtmaschinerie'‘ gegeben hätte. Das hätte m.E. in Deutschland selbst 1918 und 1923 mit besserer Taktik der KPD-Führung nicht geklappt. Ob es 1968 in Frankreich mit besserer Taktik der KPF geklappt hätte – keine Ahnung; vermutlich wäre damals aber mehr drin gewesen. Trotzdem dürfte auch das keine revolutionäre Situation gewesen sein.
b)
„Man sehe sich nur die Hoffnungen an, die 1998 beim Regierungsantritt von Rot-Grün geherrscht haben.“
Daß rot-grün eine neoliberalere Politik als vorher die Kohl-Regierung betreiben würde, war aber m.E. nicht abzusehen. Für eine Wiederholung dieses Experiments (auch unter Beteiligung der Linkspartei) würde es meine Stimmunterstützung nicht geben. Aber wie schon in Teil III ausgeführt: Die heutige Frage ist nicht ‚Rot-rot-grün – ja oder nein?‘, sondern ‚Schwarz-gelb mit einer schwachen Linkspartei als Opposition oder Schwarz-Rot mit einer stärkeren Linkspartei als Opposition‘. Da liegt m.E. auf der Hand, was das kleinere Übel ist.
3.
„Der Kapitalismus hat die Möglichkeit sich zeitweilig zu regenerieren, indem er die entstandene Last auf die unteren Schichten abwälzt, vor allem auf die Menschen in de Dritten Welt, aber er kann sie niemals besiegen.“
Ja, kapitalistische Entwicklung ist immer Entwicklung in und durch Krisen. Aber wahr ist, daß der Kapitalismus nicht nur eine massive Akkumulation von Produktionsmitteln, sondern eine massive Steigerung der Konsumgüterproduktion hervorgebracht hat. (Daß sie im Trikont vielleicht nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten hat, ist noch mal ein anderes Thema.)
Jedenfalls hatte Lenin mit seiner Fäulnis-These voll daneben gehauen.
4.a)
„Wer immer nur nach systemimmanenten Antworten sucht, der wird auch nichts weiter als eben diese bürgerlichen Illusionen vorfinden. Viele sagen ‚Man kann ja nach Antworten innerhalb des Kapitalismus suchen und dennoch die Revolution vorbereiten‘, aber eben dies ist der Trugschluss, der den ersten Stein auf der Reise in den linksliberalen Reformismus markiert, denn unsere Gesellschaft kennt in ihrem elementaren Wesen nicht viel anderes, als zwei sich antagonistisch gegenüberstehende Klassen. Man kann sich nicht für beide entscheiden. Entweder ist man bereit nach Mitteln und Wegen zu suchen, das System der bürgerlichen, der herrschenden Klasse zu zerschlagen und ein neues aufzubauen oder man ordnet sich den Spielregeln unter, die uns diese Klasse durch ihr System auferlegt.“
Beides (Reformen und revolutionärer Bruch) entgegenzusetzen ist m.E. weiterhin falsch. Es gibt reale Verbesserungen für die Ausgebeuteten und Beherrschten, die innerhalb der bestehenden Verhältnisse durchgesetzt werden können. Und sie durchzusetzen, verschlechtert nicht die Perspektiven für die Entwicklung einer revolutionären Bewegung, sondern verbessert sie. Sie schon meinen Text:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/09/01/existenzgeld-mindestloehne-und-politisierung-richtige-und-falsche-reformforderungen/, Abschnitt II.2. „Warum ist nun aber richtig derartige tatsächliche Reformforderungen zu stellen?“.
Im übrigen ist m.E. zutreffend, was solid in seiner der ersten Fassung seines Textes bei den Monsters of Göttingen [dieser link führt zur neueren Fassung] geschrieben hatte:
Die Frage ist also, nicht ob für Reformen zu kämpfen, sondern wie für Reformen zu kämpfen ist, damit dies revolutionären Zielen nicht entgegensteht.
Siehe Abschnitt III. meines genannten Textes („Kriterien zur Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Reformforderungen …“).
Zum Schluß noch zwei Lenin-Zitate – wo er Recht hat, hat er Recht:
„Wir sind absolut nicht gegen den Kampf um Reformen. […]. Wir sind Anhänger eines Reformprogrammes, das auch gegen die Opportunisten gerichtet werden muß. Die Opportunisten wären nur froh, wenn wir ihnen allein den Kampf um Reformen überließen, uns selbst aber in ein Wolkenkucksheim einer ‚Entwaffnung’ vor der schlechten Wirklichkeit drücken.“ (LW 23, 72 – 83 (80) – Das Militärprogramm der proletarischen Revolution [1916])
„Die Sozialisten verzichten keineswegs auf den Kampf für die Durchführung von Reformen. […]. Es ist aber ein bloßer bürgerlicher Betrug, wenn man Reformen predigt für Fragen, die die Geschichte und die ganze politische Situation nur als durch die Revolution zu lösende stempelt.“ (LW 22, 172 – 183 (175) – Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR an die zweite Sozialistische Konferenz [der sog. ‚Zimmerwalder Linken’] [1916])1
b)
„Einen goldenen Mittelweg, gibt es in diesem Falle nicht.“
Es geht in der Tat nicht um einen Mittelweg. Es geht darum, daß eine revolutionäre Bewegung, die nicht auch um Reformen kämpft, die nicht auch Kompromisse schließt, vollständig imaginär – ein reines Wolkenkucksheim, wie Lenin sagt – ist.2
PS.:
Nachtrag zur gesamten Wahlserie
http://ipar.blogsport.de/2009/09/27/drei-stunden-und-immer-noch-nicht-gewaehlt/ =
http://de.indymedia.org/2009/09/262042.shtml (mit laufender Diskussion)
- Vgl. mein Exzerpt http://theoriealspraxis.blogsport.de/1996/09/02/lenins-pazifismus-kritik/. [zurück]
- Vgl. http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/09/03/lenin-antwort-der-antidemokratischen-aktion/. [zurück]
Danke für die Antwort, ich werde aber keinen Beitrag mehr dazu schreiben, sondern einfach hier noch einen Punkt ansprechen, der mir wichtig ist.
Es ist selbstverständlich vollkommen richtig (und wichtig), dass eine revolutionäre Bewegung, eine revolutionäre Partei auch für kurzfristige Verbesserungen in diesem System kämpfen muss, was sich z.B. bei Lohnkämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter, bei sozialen Auseinandersetzungen im Bildungswesen oder derartigem zeigt. Das schließt auch ebenso die parlamentarische Vertretung dieser Bewegungen mit ein, z.B. wenn es um einen gesetzlichen Mindestlohn oder den Widerstand gegen unsoziale, neoliberale Reformen innerhalb des Parlamentes geht.
Worauf ich aber hinaus will ist, dass wir eine politische Alternative aufbauen müssen, die nicht die Auffassung vertritt, dass dies schon das Ende der Fahnenstange wäre, so wie es bei der Linkspartei nunmal ist, was sich bis auf einige unbestrittene rühmliche Ausnahmen (z.B.die SAV), denke ich, nicht bestreiten lässt. Ist nämlich diese revolutionäre Perspektive einmal verloren, hat die Geschichte gezeigt, ebben auch die Kämpfe um konkrete, kurzfristige Forderungen bald in starkem Maße ab. Man sieht das wunderbar an der Entpolitisierung der deutschen Gewerkschaftsbewegung.
Wir müssen also von Anfang an für den Aufbau einer Partei kämpfen, die all diese Kämpfe nicht nur mit aller Entschlossenheit führt, sondern ihnen auch eine systemüberwindende Perspektive vermitteln kann. Das erfordert natürlich die Mitwirkung und die Solidarität innerhalb der gesamten antikapitalistischen Linken und einen Bruch mit den sinnlosen Grabenkämpfen, zugunsten eines solidarisch-kritischen Dialogs. Und selbst dann muss eine solche Partei in den sozialen Kämpfen in den sozialen Kämpfen wachsen und gefestigt werden, sie kann nicht einfach aus simpler Fusion kleiner zersplitterter Kräfte entstehen. Ihr Aufbau setzt aber desweitern, und das ist einer der wichtigsten Punkte, auch die klare Fokussierung auf ein solches Ziel hinaus. Und zwar nicht erst in ein paar Jahren, wenn die Linkspartei vielleicht irgendwann dann doch mal gescheitert ist, sondern sofort.
Erst wenn es eine solche Partei gibt, stehen sich der Kampf um konkrete Reformen und die Revolution nicht mehr gegenüber, sondern gehen Hand in Hand. Der Versuch die Systemüberwindung mit klassischem Reformismus verbinden zu wollen, ist aber m.E. zum Scheitern verurteilt, bevor er überhaupt begonnen hat.
viele Grüße,
Mephisto vom Barricada! Weblog
Auch meinerseits vielen Dank für die erneute Antwort. Diesmal bin ich auch weitgehend einverstanden.
Nur bei dem „sofort“ sehe ich ein gewisses Problem:
„Und selbst dann muss eine solche Partei in den sozialen Kämpfen in den sozialen Kämpfen wachsen und gefestigt werden, sie kann nicht einfach aus simpler Fusion kleiner zersplitterter Kräfte entstehen. Ihr Aufbau setzt aber desweitern, und das ist einer der wichtigsten Punkte, auch die klare Fokussierung auf ein solches Ziel hinaus. Und zwar nicht erst in ein paar Jahren, wenn die Linkspartei vielleicht irgendwann dann doch mal gescheitert ist, sondern sofort.“
++ Es gibt im Moment kaum diese sozialen Kämpfe und nicht einmal einen (kontinuierlichen) inhaltlich-strategischen Austausch der Kräfte von – sagen wir mal – SAV, ArSti, ArPO über RSB bis radikal.
++ Geschweige denn, daß dieses Spektrum auf dem – heute morgen schon erwähnten – aktuellen Stand der feministischen, ökologischen und antirassistischen Diskussion wäre. (Bei der span. [ex-]‘trotzkistischen‘ Antikapitalistischen Linken hatte ich zumindest anhand einer 1. Mai-Demo und des EU-Wahlkampfes den Eindruck, daß es dort in Sache gender und Ökologie besser aussieht. Aber wahlpolitisch war das auch irrelevant.)
S. noch:
http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/08/25/radikal-interview-mit-der-militanten-gruppe-zu-organisierung-des-revolutionaeren-widerstandes-teil-iv-der-rezension-zu-radikal-nr-161/
und
http://theoriealspraxis.blogsport.de/koproduktionen/anmerkungen-zum-reader-autonomie-organisierung/.
Ich denke, dass man das auch im globalen Maßstab betrachten muss. Natürlich sind die sozialen Kämpfe in Deutschland lange noch nicht so ausgeprägt, wie schon in anderen Ländern und natürlich sind wir noch nirgendwo auf der Welt dort, wo wir eigentlich in dieser Hinsicht hinwollen. Ich denke aber, die Keimzellen sind bereits vorhanden und in diesen müssen wir auch jetzt schon intervenieren. Der Bildungsstreik, das Thema hatte ich ja schonmal angesprochen, hat zumindest meiner Erfahrung in Jena nach, schon die Möglichkeit geboten, vielen diese Ideen auch näherzubringen, obwohl in dieser Hinsicht, da sind wir uns denke ich auch einig, zu wenig passiert ist.
Ich stimme mit dir im Übrigen auch darin überein, das antikapitalistische Gruppen Umwelt- und Geschlechterfragen in einigen Fällen noch zu sehr vernachlässigen.
Worauf gründet sich eigentlich deine Einschätzung der izquierda anticapitalista als „Ex“-Trotzkisten?
Viele Grüße,
Mephisto vom Barricada!-Weblog
Ich hatte das „ex“ ja in Klammern gesetzt: Wegen der Umbenennung und der thematischen Öffnung über klassisch maxistische Perspektiven hinaus – war nicht als Kritik gemeint.
Hatte ich auch nicht so verstanden, habe nur des Interesses halber gefragt.
Vale.
vielleicht eher „post“ als „ex“