- zugleich Stellungnahme zu Ofenschlot, ♥Tekknoatze und gluck
I. Zur Existenzgeld-Forderung
Ofenschlot weist auf ein Junge Welt-Interview mit dem Schriftsteller Dieter Dath hin und nimmt dies zum Anlaß für eine Stellungnahme zur Existenzgeld-Forderung und zum Konzept der Politisierung:
1. Aufklärung eines mutmaßlichen Mißverständnisses
Loszugehen scheint es mir mit einem Mißverständnis. Ofenschlot zitiert zunächst Dath,
„Ich finde, das wichtigste Argument für eine Systemänderung ist das bestehende System selbst. Im Grunde gibt es immer zwei Fragen: Ist es schlecht und ist etwas anderes überhaupt vorstellbar? Wenn sich das mit Ja beantworten läßt, ist der Rest kein Fahrplan, sondern ein Prozeß. Dann fangen wir heute an, und alles andere wird sich im Verlauf des Kampfes herausstellen. Ein schönes Beispiel ist diese Existenzgeldgeschichte. Es wird eine Debatte ausgelöst und dann geben sich die Leute zu erkennen, die so dermaßen dagegen sind, daß du dich irgendwann fragst: Wieso eigentlich? Der Kampf, der von jeder neuen Forderung ausgelöst wird, ist wichtig. Dabei lernen die Leute etwas. Das politisiert Menschen.“
und schreibt dann:
„Wer sind denn eigentlich ‚die Leute‘? In Rechnung gestellt, dass auf Seiten der Linken der Großteil indifferent der Existenzgeld-Debatte gegenübersteht, überwiegen unter denjenigen, die sich damit auseinandersetzen ganz eindeutig die Befürworter. Gegen das Existenzgeld gab es vor allem eine (eine!) Broschüre, die allerdings ganz hervorragend ist, von Rainer Roth, es gab die übliche launige Erledigung von Seiten des GSP und dann hier und da einen Artikel, Neoprene hat einen aus der KONKRET verlinkt. […]. Dath baut einen Popanz auf. Die kommunistischen Gegner des BGE sind in der Minderheit.“
Dath scheint mir nun allerdings gar keine linken KritikerInnen der Existenzgeld-Forderung zu meinen, sondern diejenigen die herrschenderseits die Existenzgeld-Forderung zurückweisen – und daraus erklärt sich dann auch das von Ofenschlot kritisierte ‚Politisierungs-Modell‘ von Dath. Das tatsächlich gemeint Argumente von Dath dürfte gewesen: Wenn doch das Existenzgeld (angeblich – füge ich in Übereinstimmung mit Ofenschlot hinzu) eine so gut und plausible Sache ist, warum wird das dann nicht einfach gemacht? Das ist m.E. der Sinn von Daths rhetorischem „Wieso eigentlich?“ in Verbindung mit dem ersten Satz des Zitates: „Ich finde, das wichtigste Argument für eine Systemänderung ist das bestehende System selbst.“
Die Idee von Dath dürfte sein: Wenn die Leute von der Existenzgeld-Forderung überzeugt sind und dann merken, daß sie innerhalb ‚des Systems‘ nicht durchzusetzen ist, dann schaffen ‚die Leute‘ das System ab.
2. Läßt sich ein ‚Kampf‘ für die Existenzgeld-Forderung über die Systemgrenze hinaustreiben?
Genau das ist allerdings zu bezweifeln: Wenn eine Forderung als einfach machbare Reformforderung ausgegeben und propagiert wird, und die Leute dann merken, daß das doch gar keine Reformforderung ist, dann dürfte alles in die Hose gehen:
-- falls ein wirklicher politischer Kampf (was etwas anderes ist, als Kongresse zu veranstalten und Zeitungsartikel zu schreiben) um die Durchsetzung der Forderung aufgenommen würde, würde er verloren gehen – weil er nicht angemessen vorbereitet ist (weil sich ja eingebildet wird, es gehe um eine Reformforderung, während sie aber tatsächlich systemsprengend ist)
-- die damit absehbare Enttäuschung ‚der Leute‘ würde sich dann eher gegen diejenigen wenden, die die Illusionen geschürt haben, als gegen die Herrschenden.
3. Ofenschlots zutreffende Kritik an der Existenzgeld-Forderung
Des weiteren ist folgender Kritik von Ofenschlot an der Existenzgeld-Forderung zuzustimmen:
„Die Existenzgeld(EG)-Debatte bezieht ihren Reiz daraus, dass Leute, unabhängig von Stand und Ansehen, Geld bekommen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Das scheint radikal gegen das kapitalistische Lohnverhältnis gerichtet zu sein. Die EG-Fans träumen davon, durch die Aufkündigung des Nexus Geld-Arbeit entkapitalisierte, autonome gesellschaftliche Bereiche zu schaffen und so den Übergang zum Sozialismus zu gestalten. Das Problem ist: […] Die EG-Forderung ist die Ideologie eines radikalen Egalitarismus auf kapitalistischer Grundlage. Ein Widerspruch in sich […].“1 – Beide von Ofenschlot verlinkten Text sind in der Tat lesenswert.
4. Ofenschlots zu pauschale Kritik an Daths ‚Politisierungsmodell‘
Ofenschlots Kritik an Daths ‚Politisierungsmodell‘ fällt allerdings zu pauschal aus:
„Wieso ist eigentlich jeder Kampf, der von einer neuen Forderung ausgelöst wird, wichtig? Weil die Leute dabei etwas lernen. Aber was? Lernen an sich ist kein Wert. Und wenn Dath bekräftigend hinzufügt: ‚Das politisiert die Menschen‘, wird es immer noch nicht besser. Worin besteht denn die Politisierung? Und was soll daran per se gut sein? Jedes Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft ist eine Form der Politisierung. Da finden wir also auch schon den Übergang zu einem richtigen Kampf?“
a) Nun gibt es ja schon einen Unterschied zwischen einem Fußballspiel (und dem dabei auftretenden Nationalismus) und einer linken oder vermeintlichen linken Forderung. Abgesehen von den unterschiedlichen Inhalten, wäre auch zu überlegen, ob es sich bei dem Fußballspiel vielleicht gar nicht um eine Politisierung, sondern vielmehr um eine Kulturalisierung/Ästhetisierung des Nationalismus / der Politik handelt, was allerdings auch politische Effekte hat. Ich glaube von Walter Benjamin (?) gibt es etwas über den Unterschied zwischen faschistischer Ästhetisierung der Politik und linker Politisierung der Ästhetik – aber kenne ich mich nicht mit aus.
b) Wenn an dieser letzten Hypothese etwas dran ist, dann ist Daths Politisierungs-Begriff auch nicht so inhaltsleer wie Ofenschlot vermutet („Unter Strich kommt bei Dath zäher Formalismus raus – Hauptsache, es wird gekämpft; Hauptsache, es wird sich politisiert.“). Dann bestätigt sich auch in diesem Fall Lenins – jeder essentialistisch-hegelianischen Intuition, daß der ‚Inhalt, der ‚Kern‘ das ‚Wesen(tliche)‘ und die ‚Form‘, die ‚Oberfläche‘ / das ‚Äußere‘, die ‚bloße Erscheinung‘ das ‚unwesentliche‘ seien, widersprechende – ironische These, daß „[d]ie Form […] wesentlich [ist]“ (s. dazu auch 1 [S. 39 f.], 2): Dann besteht nämlich ein wichtiger Unterschied zwischen Ästhetisierung und Politisierung – und dieser Unterschied ist seinerseits mit politischen Unterschieden verbunden.
c) Richtiger sind Ofenschlots Fragen, „Wieso ist eigentlich jeder Kampf […] wichtig?“. Und: „Aber was [lernen die Leute]?“2, auch wenn der Nachsatz: „Lernen an sich ist kein Wert.“ ziemlich übertreibt. Jedes Lernen verbessert die Möglichkeit, sich in der Welt zurecht zu finden und die eigenen Interessen durchzusetzen (was allerdings wiederum die berechtigte Frage aufwirft, welche Interessen die lernenden Leute haben).
Ganz so flach wie Ofenschlot es versteht, ist die Position von Dath allerdings nicht. Ofenschlot zitiert ja selbst:
„Im Grunde gibt es immer zwei Fragen: Ist es [“das System“] schlecht und ist etwas anderes überhaupt vorstellbar? Wenn sich das mit Ja beantworten läßt, ist der Rest kein Fahrplan, sondern ein Prozeß. Dann fangen wir heute an, und alles andere wird sich im Verlauf des Kampfes herausstellen.“
Daß die Revolution kein Fahrplan, sondern ein Prozeß ist, ist alle Mal richtig. Daß sich „alles andere“ erst „im Verlauf des Kampfes herausstellen“ werde, ist allerdings schon arg übertrieben und planlos.
Aber kommen wir zu dem im Zusammenhang mit dem Existenzgeld entscheidenden Punkt. Daths Ausgangspunkt ist die Frage:
„Ist es [“das System“] schlecht und ist etwas anderes überhaupt vorstellbar?“
Dath ist der Ansicht, daß die Existenzgeld-Forderung zeige, daß etwas anderes möglich ist, und, daß die Nicht-Erfüllung dieser Forderung durch die Herrschenden zeige, daß „das System“ schlecht ist.
Abgesehen von den oben schon gegen die Existenzgeld-Forderung vorgebrachten Einwänden (Abschnitt I.2. und 3 sowie FN 1), scheinen mir auch gerade diese – von Dath für die Forderung geltend gemachten – Punkte eher fraglich zu sein:
aa) „etwas anderes möglich ist“. – Lassen wir mal offen, ob es in einer kommunistischen Gesellschaft noch Geld gäbe (also ein Existenzgeld geben könnte), sehe ich nicht einmal wie in einer sozialistischen Übergangsgesellschaft eine bedingungslose (keine Arbeitspflicht; keine vorrangigen familiären Unterhaltsansprüche) Sozialleistung in Höhe des sozio-kulturellen Existenzminimums möglich sein soll. Auch in einer sozialistischen Gesellschaft würde es weiterhin jede Menge unangenehmer Arbeiten geben, die ausgeführt werden müssen. Soweit dies nicht nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam organisiert werden soll (wovon ich ausgehe), muß das Problem u.a. über die Relation von Lohn und Preisen reguliert werden. Hohe Löhne erhöhen die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was das sozio-kulturelle Existenzminimum ist. Ein hohes Existenzgeld vermindert aber wiederum den Anreiz unattraktive Jobs erledigen. (Eine allgemeine, ständige Job-Rotation ist sicherlich auch keine effektive Lösung des Problems.) M.E. kann ein Existenzgeld – egal, ob in einer sozialistischen oder kapitalistischen Gesellschaft – nur funktionieren, wenn es entweder an eine überprüfbare/durchsetzbare Arbeitsbereitschaft geknüpft ist oder aber (wenn es ohne Arbeitszwang sein soll) deutlich unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums liegt.3 Nur dann gibt es einen hinreichenden Anreiz, nicht nur angenehme Arbeiten, sondern auch unangenehme Arbeiten zu verrichten.
bb) Da die Forderung m.E. weitgehend illusionär ist (s. vorstehend), erweisen sich ‚das System‘ bzw. die Herrschenden auch nicht dadurch als ’schlecht‘, daß sie sie nicht erfüllen.
d) Die etwas pauschale Kritik [s. den Anfang von Punkt I.4.c)] von Ofenschlot an dem ‚Politisierungs-Modell‘ von Dath scheint mir umso unverständlicher, als Ofenschlot selbst – wenn auch an einem einleitend etwas übertrieben dargestellten Beispiel – die Möglichkeit der Radikalisierung von Kämpfen durchaus anerkennt:
„Im Lohnkampf ist die Unversöhnlichkeit der Forderungen beider Seiten immer enthalten, sie kann (!) sich über das Politikum Geld hinaus verallgemeinern, dann werden z.B. Arbeitszeit und Reproduktionsbedingungen des Proletariats zum Politikum. Die (schwache, verschwommene, irgendwie unwahrscheinliche, aber nichtsdestoweniger reale) Perspektive ist die Revolution.“
(Übertrieben scheint mir die ‚Einleitung‘ [“Im Lohnkampf ist die Unversöhnlichkeit der Forderungen beider Seiten immer enthalten“] zu sein, weil jede Lohnforderung als quantative – wie jede andere Kaufpreis-Verhandlung auch – immer schon die Möglichkeit des zahlenmäßigen Kompromisses enthält.)
II. Mindestlohn-Forderung
1. Wie dem auch sei – gegen illusorischer Projektemacherei4 wie sie die Existenzgeld-Forderung darstellt, hebt sich die von ♥Tekknoatze abgebürstete Mindestlohn-Forderung jedenfalls positiv ab. Auf meine Bemerkung, „es ist ja nicht verkehrt, auch Forderungen unterhalb des Kommunismus zu stellen“ (die sich in dem Fall auf andere Forderungen bezog – aber das ist hier egal), antwortete er:
„Doch, als Kommunist ist das verkehrt. Oder wie soll man z.B. als Kommunist einen Mindestlohn fordern? Eben gar nicht. Solche Forderungen unterhalb des K. dienen auch kaum der Agitation für den K. sondern Manifestation und Anerkennung des demokratischen Kap.“
(Darauf antwortete wiederum Gluck:
zurecht: „Kommunisten sind aber so gut wie immer auch Lohnarbeiter. Kämpfe für mehr Lohn betreibt man eben in der aufoktroyierten Rolle des Proleten, da sich vom Kommunistentum allein heutzutage nicht leben lässt. Dass eine Domestikation des Kap. ihn stabilisieren sollte halte ich übrigens für eine gewagte These, weil dies ebenso bedeuten würde, dass elende Verhältnisse ihn destabilisieren würden. Das falsifiziert sich doch recht schnell, schon allein angesichts der reaktionären Haltung der hiesigen Unterschicht. Eine Revolution vollzieht sich eben in bewusster Aktion und nicht nach einem Reiz-Reaktions Schemata.“)
Die Überlegenheit der Mindestlohn-Forderungen liegt dabei m.E. gerade darin, daß sie tatsächlich bloß eine Reformforderung ist, nicht den Unterschied zwischen Reformen und revolutionären Veränderungen verwischt und nicht versucht, ‚die Leute‘ mit etwas harmlos Klingenden für etwas zu ködern, was sie (noch) nicht wollen – nämlich den Systembruch:
„Die Sozialisten [scil.: KommunistInnen – der Text wurde vor der Gründung russischen, später sowjetischen KP, geschrieben, TaP] verzichten keineswegs auf den Kampf für die Durchführung von Reformen. […]. Es ist aber ein bloßer bürgerlicher Betrug, wenn man Reformen predigt für Fragen, die die Geschichte und die ganze politische Situation nur als durch die Revolution zu lösende stempelt.“5
2. Warum ist nun aber richtig derartige tatsächliche Reformforderungen zu stellen?
a) Weil nichts dafür spricht, wenn man/frau/lesbe nicht ‚alles‘ haben kann, nicht zumindest einen ‚Teil‘ durchzusetzen. Auf die ‚Domestikations-These‘ hat Gluck, wie schon zitiert, treffend geantwortet. Es ist sogar davon ausgehen, daß ‚etwas‘ durchzusetzen – jedenfalls unter bestimmten, hinzukommenden Bedingungen – dazu führt, Geschmack auf noch mehr zu bekommen.
b) Unter Umstände ist es sogar notwendig, einen Teil dessen, was man/frau/lesbe schon hat, abzugeben: Wer/welche würde die unter vorgehaltener Waffe gestellte Frage „Geld oder Leben?“ nicht mit „Geld“ beantworten?!6
c) NiemandE wird als RevolutionärIn oder gar KommunistIn geboren, und es wird auch nahezu niemandE – kleiner Seitenhieb auf Krimli – allein dadurch eine revolutionäre Haltung einnehmen und eine revolutionäre Praxis entwickeln, daß ihm/ihr jemandE „den Kapitalismus erklärt“ – und selbst dann nicht, wenn die Erklärung zutreffend ist. – Eine revolutionäre Haltung hat nämlich nicht nur mit einer zutreffenden Erkenntnis dieses oder jenes Herrschaftsverhältnisses (oder auch aller Herrschaftsverhältnisse) zu tun (eine solche Erkenntnis kann nämlich durchaus auch mit deren Affirmation einhergehen – Herrschen und Ausbeuten sind ja keine Dummheiten! – auch wenn dies Krimis [= Krimli] zu meinen scheint: „Systemkritische politische Kämpfe finden also darum statt, ob es vernünftig ist, das Eigentum zu wollen.“). Sie hat auch damit zu tun, eine realistische Alternative zu dem Erkannten (oder sogar Verkannten) zu sehen; hat damit zu tun, glaubwürdige Kampfperspektive zu sehen.
d) Dies setzt voraus, überhaupt erst einmal die Vereinzelung der Markt- und Familien-Subjekte zu durchbrechen, Solidarität, die Möglichkeit des gemeinsamen Kämpfens, zu erfahren.
e) Kämpfen setzt ‚Techniken‘ und Organisierung voraus. (Organisierung ist allein schon notwendig, um Erfahrungen nicht nur zu machen, sondern sie zutreffend zu analysieren und die richtigen Konsequenzen aus ihnen zu ziehen. Jede etwas komplexere Erkenntnis entsteht nicht durch individuelle Eingebung, sondern durch einen kollektiven Arbeits- und Diskussionsprozeß.) Diese (‚Techniken’ und Organisierung) erst dann zu entwickeln, wenn eine hinreichend große Anzahl von Leuten das richtige ‚revolutionäre Wollen‘ hat, würde Zeit verschenken. – Warum damit nicht schon hier und heute beginnen?! Es wäre sogar falsch, nicht bereits hier und jetzt in Kämpfen für Reformforderungen damit zu beginnen, denn:
f) NiemandE sollte versuchen, das Bergsteigen, mit einer Besteigung des Mont Everests, zu beginnen. Auch RevolutionärInnen, die sich als erstes Projekt vornehmen, die ‚Revolution zu machen‘, werden dabei blutig auf die Nase fallen, was die Nicht-RevolutionärInnen wiederum in der Überzeugung bestärken würde, daß es ohnehin keine realistische Alternative gibt [s. Punkt I.2.].
g) Erfolgreich kämpfen setzt voraus, die Kampfmethoden der GegnerInnen kennenzulernen. Auch damit sollte – wenn es etwas nützen soll – nicht erst in der vermeintlich finalen Schlacht begonnen werden. In jedem Reformkampf (und andere sind in der BRD z.Z. nicht möglich) kann das Lernen beginnen (nur sollte es damit nicht auch enden).
h) In den seltensten Fälle dürften sich Leute davon überzeugen lassen, den falschen Willen zu haben – nach dem Motto: ‚Ihr wollt nur Mindestlohn, aber Ihr müßt doch den Kapitalismus (das Patriarchat, den Rassismus …) abschaffen wollen.‘ Daß Leute etwas sagen, garantiert nicht, daß ihnen auch zugehört wird. Wer/welche ZuhörerInnen haben will, wird zunächst einmal über die Themen, die die gewünschten ZuhörerInnen interessieren, etwas Sinnvolles sagen müssen – und von da aus zu den eignen Themen kommen. – Wieso sollten RevolutionärInnen von ‚den Leuten‘ das Zuhören geschenkt bekommen, wenn sich die RevolutionärInnen zu dem, was ‚die Leute‘ interessiert – und das sind heute maximal Reformforderungen und deren Durchsetzung –, nicht äußern. Erst wer/welche dazu Brauchbares zu sagen hat und politisch-praktische Vorschläge macht, kann damit rechnen, auch zu viel weitergehenden Projekten gehört zu werden. (Und gute Vorschläge zu machen, setzt voraus, nicht von der ZuschauerInnenbank aus zu kommentieren, sondern in den entsprechenden Bündnissen und Bewegungsstrukturen präsent zu sein.)
i) Grundlegende Veränderungen zu wollen, setzt auch voraus, einzelne Verbesserungen durchgesetzt zu haben, und dann zu merken, immer noch unzufrieden zu sein [vgl. noch einmal II.2.a): ‚auf den Geschmack kommen’].
Alldies heißt freilich nicht, daß mit weitergehenden Zielen hinter den Berg gehalten werden sollte; auch wer/welche mit gespaltener Zunge redet (und dabei erwischt wird), wird seine/ihre ZuhörerInnen verlieren – sofern es sie überhaupt gab.
III. Kriterien zur Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Reformforderungen und deren Anwendung auf Existenzgeld- und Mindestlohn-Forderung
Hiernach möchte ich – in einem vielleicht etwas abrupten Übergang – folgenden Fragenkatalog zur Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Reformforderungen vorschlagen (wobei nicht alle sechs Fragen positiv beantwortet werden müssen, damit eine sinnvolle Reformforderung vorliegt, und der Fragenkatalog läßt sich wahrscheinlich auch noch erweitern):
1. Sind die konkret geforderten Rechte geeignet, die Initiative und Selbsttätigkeit der Ausgebeuteten und Beherrschten zu fördern?
2. Orientieren sie diese Initiativen auf reale Machtzentren? (Um ein Beispiel aus dem Bereich von Mitbestimmungsforderungen zu nehmen: Korporativistisch zusammengesetzte und [Regierung und Gesetzgeber] bloß beratende Wirtschafts- und Sozialräte dürfte deutlich weniger nützlich sein als Vetorechte von Betriebsräte gegen Unternehmensvorstände und Aufsichtsräte.) Oder führen sie – z.B. durch Verkennung dessen, was rechtliche Gleichheit leisten kann – zur Verzettlung in einen ideologischen Kampf gegen Windmühlen?
3. Verbessern sie die Informationsbasis der Ausgebeuteten und Beherrschten? Erleichtern sie ihnen ihre Politik „in Kenntnis der Sachlage“ (Louis Althusser) weiterzuentwickeln?
4. Verschaffen sie Gegenmachtpositionen, Stützpunkte für den weiteren Kampf? Oder schreiben sie ein bestimmtes institutionelles und inhaltliches Arrangement dauerhaft fest?
5. Beruhen sie auf einer zutreffenden Analyse und Begründung? Vermitteln sie (bzw. der politische Kampf für sie) ein zutreffendes Bild von den Funktionsmechanismen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse? Oder produzieren sie vielmehr Illusionen (Bsp.: ‚Kampf’ gegen Aussperrung mit dem Argument, sie verstoße gegen die ‚Sozialpflichtigkeit’ des Eigentums)?
6. Sind sie mit einer klaren Vorstellung über deren Stellenwert und Reichweite verbunden? Oder anders gesagt: Beachten sie den Unterschied zwischen Reform und Revolution?
Gegen die Existenzgeld-Forderung spricht die eindeutig negative Antwort auf Frage 6. Die Mindestlohn-Forderung ist dagegen genau das, was sie ist: Eine Reformforderung innerhalb des Lohnsystems.
Die Einführung eines Mindestlohn gefährdet (im Gegensatz zum Existenzgeld, was aber gerade gegen die Existenzgeld-Forderung als Reformforderung spricht, s. I.2. und FN 1) nicht die Kapitalakkumulation; sie gibt nicht eine revolutionäre Veränderung als ‚harmlose’, angeblich ganz einfach machbare Reform aus. Im Zweifel könnte das Kapital versuchen, eine Erhöhung der unteren Löhne mit einer Verminderung der Lohnspreizung zu kompensieren (bei übertariflich bezahlten Lohnabhängigen dürfte das relativ einfach sein). Letzteres wäre sogar ein weiterer Vorteil der Mindestlohn-Forderung gegenüber der Existenzgeld-Forderung: Statt zu einer Spaltung zwischen Lohnabhängigen und Existenzgeld-BezieherInnen, käme es zu einer ökonomischen Vereinheitlichung der Lohnabhängigen, was die politischen Kampfmöglichkeiten verbessern würde.
Des weiteren legt ein Mindestlohn, zwar eine Lohnuntergrenze fest, aber erschwert nicht, mehr durchzusetzen (sie bedeutet damit auch keine Festlegung eines angeblichen ‚gerechten’ Lohns, sondern die tatsächlich Lohnhöhe bleibt umkämpft). Dies unterscheidet einen Mindestlohn bspw. von staatlich-korporativistischen ‚Lohnleitlinien’. (Damit fällt für den Mindestlohn auch die Antwort auf Frage 4. [Keine Festschreibung] und 5. [keine Fiktion eines ‚gerechten Lohns’ {analog zum sozialpflichtigen Eigentum}] eher positiv aus.)7
- Diese Kritik läßt sich noch wie folgt detaillieren und ergänzen: a) Denken wir uns ein bedingungsloses Existenzgeld in Höhe des soziokulturellen Existenzminimums und ohne Arbeitszwang, aber auch ohne automatischer Inflationsanpassung: Es würde einen kurzfristigen Kaufkraftschub bringen, die Preise steigen lassen und dann fiele die Höhe des Existenzgeldes in kürzester Zeit unterhalb das soziokulturellen Existenzminimum. b) Diese Erfahrung könnte (wenn es gut läuft) dazuführen, daß eine automatische Inflationsanpassung eingeführt/durchgesetzt wird (oder so könnte es auch schon von Anfang an beschlossen werden). Dann gibt es zwei Möglichkeiten: aa) Es handelt sich tatsächlich um das soziokulturelle Existenzminimum. Dann dürfte das Existenzgeld eine erhebliche Attraktivität auch für die am meisten fordistisch sozialisierten Teile der ArbeiterInnenklasse haben. D.h.: Um den Arbeitskräftebedarf des Kapitals zu decken, würde ein Wettlauf zwischen Löhnen und Existenzgeld einsetzen (denn höhere Löhne erhöhen das soziokulturelle Existenzminimum, was wiederum – wg. des Arbeitskräftebedarfs – die Löhne unter Erhöhungsdruck setzt) – und früher oder später würde die Kapitalakkumulation zusammenbrechen. – Genau das ist auch die mehr oder minder heimliche Hoffnung der Existenzgeld-BefürworterInnen: Das Existenzgeld zu einem Vehikel der Systemtransformation zu machen. Aber genau darin erweisen sie sich als Schreibtisch-StrategInnen (s. im Haupttext I.2.). bb) Das soziokulturelle Existenzminimum wird doch eher kleinherzig bemessen. Dann würde die Sogwirkung auf die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse wahrscheinlich ausbleiben, das Ganze könnte tatsächlich finanzierbar sein – und es würde zu einer Spaltung zwischen Lohnabhängigen und ExistenzgeldbezieherInnen kommen. (Das wäre – auf vielleicht verbessertem finanziellen Niveau und mit weniger bürokratischem Aufwand – in etwa die Wiederherstellung der 70er und 80er Jahre: Ein Großteil der Linksradikalen lebt von Sozialleistung und macht Politik, und die / der Rest der ArbeiterInnenklasse arbeitet. [Hinzukäme heute vielleicht noch eine ‚neoliberale Angestellten-Aristokratie’, die zwischen relativ gut bezahlten Jobs und Existenzgeld hin- und herpendelt.] Das wäre vielleicht eine Verbesserung gegenüber dem neoliberalen status quo, aber eine Perspektive zur Systemtransformation enthielte das heute genauso wenig, wie damals.) c) Dann gibt es noch die besonders absurde Existenzgeld-Variante: Tatsächlich bekommen alle das Existenzgeld – unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht, wieviel sie verdienen, ob sie Vermögen haben oder nicht. In diesem Fall könnte es sogar zu einem Sinken der Löhne kommen: Da ein Teil der Reproduktion der Arbeitskraft der Lohnabhängigen bereits durch das Existenzgeld gesichert ist, könnte das Kapital mit guten Erfolgsaussichten versuchen, die Löhne entsprechend zu senken. Das heißt aber, daß die Einkommenssteuereinnahmen des Staates massiv einbrechen, obwohl er zusätzlich das Existenzgeld zahlen soll. Damit ist die ohnehin fragliche Finanzierbarkeit endgültig dahin – es sei denn, es würde entsprechend massiv in die Unternehmensgewinne eingriffen --- womit sich der angebliche ‚Realismus‘ der Existenzgeld-Forderung endgültig als Seifenblase erweist. [zurück]
- Sicherlich ist weder Kämpfen als solches richtig noch wird aus dem Kämpfen als solches ‚das Richtige‘ gelernt. Es kommt immer darauf an, für welche Forderungen mit welchen Begründungen die Kämpfe geführt werden und daß die Erfahrungen nicht einfach nur ‚gemacht‘ (= erfahren) werden, sondern theoretisch verarbeitet werden; so schon meine Stellungnahme bei ADA (Abschnitt IV.2.), was die Antwort von Krimli (Abs. 4; „zu 2.“) darauf aber ignoriert: „Durch Erfahrung wird niemand klug. Erfahrungen macht jeder sowieso mit dem Kapitalismus.“ Ja, das hatte war schon in meinem Kommentar impliziert. [zurück]
- Denkbar wäre vielleicht auch noch eine Kombination beider Modelle: Eine Sicherung unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums ohne Arbeitszwang + einer Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums mit Arbeitspflicht (falls mindestens mit Mindestlohn bezahlte Arbeitspläze frei sind). – Richtig sind m.E. auch Forderungen nach einer Erhöhung der Hartz IV-Sätze und eine Anhebung der Kriterien (= Lockerung aus Sicht der Betroffenen) für die Zumutbarkeit von angebotener Arbeit. Aber all solche Konkretisierungen beseitigen sofort den utopistischen ‚Charme’ der Existenzgeld-Forderung, auf den deren BefürworterInnen so stehen. [zurück]
- Lenin charakterisierte die von ihm unter dieser Überschrift behandelten „Perlen volkstümlicher Projektemacherei“ (1898) wie folgt: „Das alles ist durch und durch Heuchelei, es sind leere Phrase, die das ganze Wesen der Wirklichkeit mit sinnlosen ‚Wünschen‘ eines Kleinbürgers [dt. i.O.] zudecken“ (LW 2, 467-500 [474 f.]). – Problematisch ist nur, daß Lenin hier „Kleinbürger“ genauso unanalytisch wie die Linke im allgemeinen verwendet. Sinnlose Wünsche eines Proletariers oder einer Proletarierin wären ja nicht besser und die Möglichkeit, sinnlose Wünsche zu formulieren, hängt nicht von der Klassenlage ab. (Statt ein Klassenbegriff zu sein [was er wohl auch nicht sein kann – durch welche Merkmale sollte diese Klasse spezifisch definiert sein?!], covert er im üblichen linken Sprachgebrauch eher die gesammelten Sinnlosigkeiten aller Klassen.) [zurück]
- LW 22, 172-183 (175) – Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR an die zweite Sozialistische Konferenz [der sog. ‚Zimmerwalder Linken’] (1916); auf engl. unter: http://www.marxists.org/archive/lenin/works/1916/apr/22.htm. [zurück]
- LW 31, 1-106 (21) – Der „Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920): „Stellen Sie sich vor, daß Ihr Automobil von bewaffneten Banditen angehalten worden ist. Sie geben ihnen Ihr Geld, Ihren Paß, Ihren Revolver, Ihren Wagen. Sie werden von der angenehmen Gesellschaft der Banditen erlöst. Das ist zweifellos ein Kompromiß. ‚Do ut des.’ (‚Ich gebe’ dir mein Geld, meine Waffe, meinen Wagen, ‚damit du’ mir die Möglichkeit ‚gibst’, mich wohlbehalten aus dem Staube zu machen.) Es dürfte indes schwerfallen, einen Menschen zu finden, der bei gesundem Verstand ein derartiges Kompromiß für ‚prinzipiell unzulässig’ oder aber die Person, die ein solches Kompromiß geschlossen hat, für einen Komplicen der Banditen erklären würde (obgleich die Banditen, nachdem sie im Automobil Platz genommen hatten, den Wagen und die Waffe für weitere Raubüberfälle benutzen konnten).“ [zurück]
- Frage 2 und 3 dürften weder für die Mindestlohn- noch für die Existenzgeld-Forderung einschlägig sein; Frage 1 dürfte für beide Forderungen dahingehend positiv zu beantworten sein, daß mehr Geld zumindest individuell (im privaten Leben) mehr Möglichkeit zu Initiative und Selbsttätigkeit bietet. Außerdem ist die Mindestlohn-Forderung zumindest eine Antwort auf die (wenn auch keine Abhilfe für die) gewerkschaftliche Schwäche in bestimmten Branchen. [zurück]
Vgl. als Verallgemeinerung meines Arguments
auch die FN 1 bis 3 meines Beitrages http://theoriealspraxis.blogsport.de/2010/05/11/verschiedene-geschmaecker/ und den zu den FN dazugehörenden Haupttext.
Siehe zum hiesigen Thema jetzt auch noch:
Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen eine sozialistische Forderung?
http://blog-proleter.myblog.de/blog-proleter/art/8619514/Ist-ein-bedingungsloses-Grundeinkommen-eine-sozialistische-Forderung