Kritische Anmerkungen zur Renaissance des Humanismus in der linken Debatte
[Die Text wurde zuerst im Dez. 1991 in der PROWO. Linke Monatszeitung gegen die Verhältnisse, Nr. 20, S. 6 veröffentlicht. Bleibt noch anzumerken, daß ich heute in konsequenterer Umsetzung der damaligen Überlegungen statt „mensch“ bzw. – bei Eingriff in Zitaten „mensch“ – nun vielmehr „man/frau/lesbe“ schreibe. S. dazu: 1. Beitrag: Zum Namen und zur Funktion von „Theorie als Praxis“. Mich selbst würde ich mittlerweile nicht mehr als „Verfasser“, sondern als „VerfasserIn“ adressieren. Auch ansonsten könnte an ein paar Stellen noch leicht nachgebessert werden, worauf ich aber im Moment aus Zeitgründen verzichte.
Zu Res Strehle, von dem das erste vorgestellte Zitat stammt, s. auch noch:
-- http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/09/20/autonome-politoekokonomie/
-- http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/11/16/wo-viel-licht-ist-ist-auch-viel-schatten/
und
-- http://theoriealspraxis.blogsport.de/1991/10/15/defizite-sind-dazu-da-um-behoben-zu-werden/. Folgenden Text gibt es darüber hinaus hier als .pdf-Text-Datei und hier als .pdf-Bild-Datei.]
„(…) es gibt doch eine humanistische Position, die deshalb fundamental gegen den Kapitalismus ist, weil Kapitalismus alles, also menschliches Leben, Subjektivität, Natur, Sinn usw. auf Kapitalverwertung hin faßt.“
Res Strehle in: PROWO 18, 8
„Unsere Vorschläge für die alternativen Vorstellungen der PDS und für ihre praktische Politik beziehen sich auf die Inhumanität vieler Aspekte des konkreten Alltags in der kapitalistischen Bundesrepublik (…).“
André Brie u.a. in: ND, 30.09.1991, 9
Diese beiden Zitate sind nur zwei Beispiele für die jüngste Renaissance des Humanismus in der Linken. Viele werden fragen: Worauf soll denn diese Kritik hinaus laufen? Was spricht eigentlich gegen Moral, ethische Begriffe, Humanität usw.? Ist das nicht genau das, was wir als Linke wollen – zumal mit dem „real existierenden Sozialismus“ gerade ein inhumanes, pseudo-linkes System zusammengebrochen ist? Schreibt nicht Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, daß „alle Verhältnisse umzuwerfen (sind), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“[1]? Haben wir diesen Satz nicht selber schon zitiert?
Der Weg zur Hölle
Ja, und auch der Verfasser hat diesen Marx-Satz schon verschiedentlich zitiert. Und es war falsch! Denn der „Weg zur Hölle ist“ bekanntlich „breit, bequem und mit den besten Vorsätzen gepflastert“[2]. Dafür nur zwei Beispiele: Die Zeit des Siegeszuges von bürgerlicher Aufklärung und Humanismus war gleichzeitig eine Zeit brutaler Frauenunterdrückung und die Zeit der Kolonialisierung: So beteiligte sich bspw. der französische Humanist und Rechtsgelehrte Jean Bodin (1529 – 1596) „selbst an den Folterungen der Hexen“[3]. Und Voltaire meinte: „Es gibt in jeder Menschenrasse wie bei Pflanzen ein Prinzip, das sie differenziert. Deshalb sind Neger Sklaven der anderen Menschen.“[4] Das zweite Beispiel: „Ab 1935 lanciert(e) Stalin den ‚sozialistischen Humanismus’: (…)“[5]. Er sah die Klassengegensätze in der Sowjetunion sich „verwischen“. Dies sei „die Grundlage der moralisch-politischen Einheit der Gesellschaft“[6]. Die Periode der „Diktatur des Proletariats“ sei beendet, die SU der „Staat ganzen Volkes“[7]. Zeitgleich tobte bekanntlich die Massenrepression.[8]
Aber ist es nicht trotzdem richtig, derartige moralische Ansprüche beim Wort zu nehmen, sie gegen die gegenteilige Praxis einzuklagen? Sollen etwa nicht „alle Verhältnisse um(ge)w(o)rfen (werden), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“?!
Ja, schon richtig, aber unzureichend – und deshalb führen derartige Sätze in die Irre! Sie trüben die notwendige ideologische Klarheit im revolutionären Kampf.
Es gibt nur einen Aspekt, unter dem der Rekurs auf „die Menschen“ vertretbar und tatsächlich notwendig ist: wenn es um die abstrakte Gemeinsamkeit der Menschen – im Unterschied zum Tier- und Pflanzenreich und unseren Vorvorfahren – geht. Ab dem Moment aber, wo es nicht mehr um die abstrakte Gemeinsamkeit der Menschen, sondern gerade um Unterschiede zwischen Menschen / unterschiedliche gesellschaftliche Stellungen der Menschen, um Klassen-, Geschlechter- sowie rassistischer Herrschaft geht, ist der Begriff nutzlos, ja schädlich.
Nun sagt Res aber: „Solange diese humanistische Position materialistisch fundiert ist, d.h. nicht idealistisch daherkommt, habe ich nichts gegen sie und denke sogar, daß sie das Fundament einer Politischen Ökonomie ausmacht.“ (a.a.O.).
Und an dieser Überlegung ist tatsächlich etwas, aber wirklich nur etwas, Wahres daran. Denn Begriffe wie „materialistischer Humanismus“, „realer Humanismus“, „sozialistischer Humanismus“ etc. können nur einen Hinweis geben, „welche Wendung mensch nehmen muß (…), um sich nicht mehr im Himmel der Abstraktionen, sondern auf der wirklichen Erde zu befinden. (…) ist diese Verlagerung einmal vollzogen, ist die wissenschaftliche Analyse dieses wirklichen Gegenstandes einmal unternommen, dann entdecken wir, daß die Erkenntnis der konkreten (wirklichen) Menschen, d.h. die Erkenntnis des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse, nur unter der Bedingung möglich ist, daß mensch auf die theoretischen Dienste des Begriff Mensch (…) ganz verzichtet.“[9] Daß der Humanismus bestenfalls Wegweiser-Funktion hat, zeigt sich auch daran, daß die eingangs zitierte marx’sche Rede von „allen Verhältnissen“ die Nebenwiderspruchstheorie völlig unberührt ließ.
Aber wieso gibt es nun Marx-Zitate wie das oben angeführte, obwohl sie in die Irre führen und obwohl Marx später für sich in Anspruch nahm, bei seiner „analytische(n) Methode (…) nicht von dem Menschen, sondern von der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode“ ausgegangen zu sein[10]?
Althusser über den epistemologischen Bruch bei Marx
Nun, mensch wird sich mit dem Gedanken anfreunden müssen, daß auch Marx nicht mit all seinem Wissen und all seinen (politischen) Erfahrungen geboren wurde – daß es vielmehr in seinem Werk eine Entwicklung gibt. Und diese Entwicklung ist nicht evolutionär, sondern revolutionär.[11] Louis Althusser verwendet dafür den Begriff des „epistemologischen“ (wissenschaftstheoretischen) „Einschnitts“[12]. Danach sind Marx’ Jugendwerke noch von einer humanistischen Geschichtsphilosophie beherrscht[13]; die Feuerbach-Thesen und die „Deutsche Ideologie (beide in MEW 3) stellten den Einschnitt dar. Mit diesen Schriften habe Marx die Geschichtswissenschaft, den historischen Materialismus, begründet.[14] (Dies entspricht der Selbstdarstellung von Marx: Er und Engels hätten 1845 beim Verfassen der „Deutschen Ideologie“ beschlossen, „mit unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“.[15]) Dieser Einschnitt läßt sich nicht so vorstellen, wie mensch ein Brot teilen kann – daß mensch dann eine saubere Trennung hat. Vielmehr ist dieser Einschnitt – wie jede Wissenschaft – ein Prozeß:[16] Althusser unterscheidet bei Marx weiter zwischen Werken der Reifung (1845 – 1857) und der Reife (1857 – 1883).[17] Auch damit ist der Prozeß nicht beendet, vielmehr müssen auch wir ihn heute nochvollziehen.[18] Und hier fängt auch die Aufgabe der marxistischen Philosophie, an: Sie ist nicht (auf die Wissenschaften) anzuwenden. Vielmehr hat sie „Demarkationslinien“ zwischen Wissenschaften und Ideologien zu ziehen.[19] (Dieses beharren auf die Wissenschaftlichkeit ist auch politisch wichtig: Die von Res in seinem Buch mit Recht kritisierten herrschaftsstabilisierenden, sog. „Sozialwissenschaften“ [148 ff.] sind keine Wissenschaften, sondern eine Mischung aus Techniken und Ideologien.[20]) Die materialistische Dialektik hat Fragen zu stellen, die die Wissenschaften vorantreiben,[21] und letztere dadurch zu unterstützen, daß sie für den Materialismus bzw. materialistische Tendenzen und gegen den Idealismus bzw. idealistische Tendenzen Partei ergreift[22].
Die Prozeßhaftigkeit des Einschnitts erklärt auch, warum bestimmte Begriffe der früheren „Problematik“ – so nennt Althusser das Charakteristische, die grundsätzliche Herangehensweise eines Denkens – teilweise noch in späteren Schriften auftauchen:[23] „(…) das Individuum, das zum Urheber (einer) Entdeckung wird, (ist) jener paradoxen Bedingung unterworfen, daß es die Kunst erlernen muß, das, was es entdecken wird, in dem auszudrücken, was es vergessen muß.“[24]
„Philosophie ist, in letzter Instanz, Klassenkampf, in der Theorie.“[25] Damit verweist der „epistemologische Einschnitt“ auf einen politischen Positionswechsel von Marx: „vom bürgerlich-radikalen Liberalismus (1843-44) zum kleinbürgerlichen Kommunismus (1843-44) zum proletarischen Kommunismus (1844-45)“.[26] Marx wurde zum „organischen Intellektuellen“ (Gramsci) der ArbeiterInnenbewegung.[27]
Der Einsatz
Und noch ein letztes Wort zu diesem Problem: Bei diesen Differenzen geht es nicht um Wortklauberei, sondern um folgende entscheidende Frage: Ob wir als RevolutionärInnen nur moralischen Protest artikulieren oder „aufgrund von Sachkenntnis auf sie (die Geschichte, d. Verf.) einwirken“[28]. Auch taktisch bringt es nichts, eine humanistische Argumentation zu verwenden: Sollen HumanistInnen für revolutionäre Positionen gewonnen werden, kann eine Berücksichtigung von Klassen- etc. Gegensätzen ohnehin nicht mehr vermieden werden. D.h. die humanistischen Illusionen die mensch erst mitproduziert, muß mensch anschließend zerstören. „(…) sehr wahrscheinlich ist, daß die Enttäuschung sich gegen diejenigen wendet, die jene Illusionen aufgebaut haben“[29].
„Wir können allen denen helfen, die im Begriff sind, diese Grenze (zwischen humanistischer Ideologie und wissenschaftlichem Sozialismus, d. Verf.) zu überschreiten: aber unter der Bedingung, daß wir sie selbst überschritten haben (…).“[30]
Desch
Anmerkungen
(aus der Rurik: das Wichtigste in Kürze, Red.):
1 Marx 1843/44, 385 – Hervorh. i.O.
2 Hase/Ladeur/Ridder 1981, 798.
3 Engert 1988, 14.
4 zit. n. Viehmann 1991, 34.
5 Vargas 1985, 901.
6 Redaktionskommission 1938, 428.
7 Balibar 1976, 23 f.
8 Balibar 1976, 24.
9 Althusser 1965, 197.
10 Marx 1879/80, 371.
11 Althusser 1972, 70 f.
12 S. dazu Bensussan 1984.
13 S. dazu auch: Althusser 1960, 47 ff.
14 Althusser 1965b, 32 ff. Vgl. zur Geschichtswissenschaft: Althusser 1972, 58 ff., 65.
15 Marx 1859, 10.
16 Karsz 1976, 34 f.; Althusser 1972, 66.
17 Althusser 1965b, 35.
18 Karsz 1976, 35.
19 Ebd., 75; Kolkenbrock-Netz/Schöttler 1977, 134 f.; Althusser 1967, 11 ff.
20 Karsz 1976, 37 f.; Althusser 1963, 108, 110; Althusser 1968b, 107.
21 Vgl. Althusser 1972, 58 ff.
22 Karsz 1976, 82.
23 S. dazu: Althusser 1972, 64: In so wichtigen Werken wie dem „Manifest“, in „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, in der „Kritik des Gothaer Programms“, im „Elend der Philosophie“ tauchen sie nicht auf.
24 Althusser zit. n. Karsz 1976, 154 – Hervorh. bei Karsz.
25 Althusser 1972, 37 ff., 67.
26 Ebd., 68.
27 Althusser 1976, 166. Vgl. Althusser 1972, 72; Althusser 1968b, 111.
28 Karsz 1976, 36.
29 Römer 1986, 22 am Beispiel der Folgen des Aufstellens von utopistischen Rechtsforderungen. Vgl. Wiethold 1985a, 29: „Man sollte die Widerstände im Bewußtsein der abhängig Beschäftigten ernst nehmen. Das Mißtrauen gegenüber politischen Programmen und Utopien bedeutet auch, dem allzu leichten Weg, den glättenden Versprechungen, dem lauten Optimismus derer zu mißtrauen, die meinen, die Realität mache mutlos, deshalb müsse sie für die Masse geschmikt werden. Der Arbeiterklasse ist in ihrer Geschichte allzu häufig der Untergang des Kapitalismus, ihre Unbesiegbarkeit – oder in der sozialdemokratischen Variante – die friedliche Unterwanderung des Kapitalismus durch Mitbestimmung, Gemeinwirtschaft und staatliche Planung vorausgesagt worden.“
30 Althusser 1965a, 200 f.
Literatur
(aus der Rubrik: Was lesen Sie heute nachmittag? Red.):
Althusser 1960: L. Althusser, Die „philosophischen Manifeste“ Feuerbachs (1960), in: ders. 1968a, 47 ff.
Althusser 1963: ders., Über materialistische Dialektik (1963), in: ders. 1968a, 100 ff.
Althusser 1965a: ders., Ergänzende Anmerkung über den „realen Humanismus“, in: Althusser 1968a, 195 ff.
Althusser 1965b: ders., Vorwort: Heute (1965), in: ders. 1968a, 17 ff.
Althusser 1967: ders., Philosophie und spontane Philo¬sophie der Wissenschaftler (1967), in: ders., Schriften, Band 4, (West)berlin, 1985, 11 ff.
Althusser 1968a: ders., Für Marx, Frankfurt am Main, 1968.
Althusser 1968b: ders., Von „Das Kapital lesen“ (1965) bis „Lenin und die Philosophie“ (1968) – Entwurf eines Vorworts (1968), in: ders., Elemente der Selbstkritik, Westberlin, 1975, 97 ff.
Althusser 1972: ders., Antwort an John Lewis (1972), in: H. Arenz / J. Bischoff / U. Jaeggi (Hg.), Was ist revo¬lutionärer Marxismus, Westberlin, 1973, 35 ff.
Balibar 1976: E. Balibar, Über die Diktatur des Proletariats, Hamburg/Westberlin, 1977 (Originalausgabe: Paris, 1976)
Benussan 1984: G. Bensussan, Stichwort „Epistemologischer Einschnitt (Bruch)“, in: G. Labica / G. Bensussan, Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 2, (West)berlin 1984, 304 ff.
Engert 1988: St. Engert, Feministische Quantensprünge, in: Hori¬zonte (Köln), Nr. 6, Sommer 1988, 13 ff.
Hase/Ladeur/Ridder 1981: F. Hase / K.-H. Ladeur / H. Ridder, Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung 1981, 794 ff.
Karsz 1976: S. Karsz, Theorie und Politik: Louis Althusser, Frankfurt/M. usw., 1976.
Kolkenbrock-Netz/Schöttler 1977: J. Kolkenbrock-Netz / P. Schöttler, Für eine marxistische Althusser-Rezeption in der BRD (1977), in: K. Thieme, Althusser zur Einführung, Hannover, 1982, 119 ff.
Marx 1843/44: K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44), in: MEW 1, 378 ff.
Marx 1859: ders., Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort (1859), in: MEW 13, 7 ff.
Marx 1879: ders., (Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“) (1879/80), in: MEW 19, 355 ff.
Redaktionskommission 1938: Redaktionskommission des ZK der KPdSU (B), Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) (1938), in: J.W. Stalin, Werke. Band 15, Frankfurt (am Main) 1972, 3 ff.
Römer 1986: P. Römer, Vom Frieden des Rechts und vom Kampf der Klassen, in: De¬mokratie und Recht (Köln) 1986, 16 ff.
Vargas 1985: Y. Vargas, Stichwort „Moral“, in: G. Labica / G. Bensussan, Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 5, (West)berlin, 1986, 898 ff. (Originalausgabe: Paris, 1985)
Viehmann 1991: K. Viehmann und Genossinnen/Genossen, Drei zu Eins – Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus, in: Projektgruppe Metropolen(Gedanken) und Revolution (Hg.), Texte zu Patriarchat, Rassismus und Internationalismus, Berlin, 1991, 27 ff.
Wiethold 1985a: F. Wiethold, Die Balance des Widerspruchs, in: Düsseldorfer Debatte 2/1985, 21 ff.
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